Mit Vertrauen ins neue Jahr

Unsplash / Cristian Escobar

Mit Vertrauen ins neue Jahr
Zum Jahrewechsel
01.01.2022 - 07:05
31.12.2021
Diederich Lüken
Über die Sendung:

 

Der "Feiertag" im DLF-Kultur zum Nachhören und Nachlesen.

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 „Die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“

 

 

So mag man sich fühlen am Beginn eines neuen Jahres. Die Dunkelheit der letzten paar Stunden weicht, und statt der Feuerwerke erstrahlt die Sonne – wenn auch vielleicht hinter einer grauen Wolkendecke. Ein neuer Zeitabschnitt beginnt, und mit ihm ergeben sich neue Chancen. Das neue Jahr ist offen, unbeschrieben wie ein weißes Blatt Papier, das wir beschreiben müssen, beschreiben dürfen – oft wird es auch beschrieben von Menschen und Mächten, auf die wir keinen Einfluss haben. Es liegt vor uns wie frisch gefallener Schnee und wartet darauf, dass Tiere und Menschen ihre Spuren darauf prägen. Worte des Dichters Friedrich Hölderlin locken: „Komm! ins Offene, Freund!“ Sie geben Anstoß dazu, beherzt die weißen Bögen zu beschriften, beherzt Spuren zu hinterlassen, das heißt: Sie ermutigen uns, fortzuschreiten und neue Gestaltungen unseres Lebens zu erwirken. Sie bestärken uns in dem Bewusstsein:  Die Zukunft hält Neues bereithält, das zu ergreifen sich lohnt. Wir wissen zwar nicht, welche Spuren unser Leben am Ende hinterlässt. Gerade deshalb aber gilt es, sich dem zu öffnen, was auf uns zukommt, und zu versuchen, es zu gestalten. So sieht es auch Octavio Paz, wenn er zum ersten Januar dichtet:

Die Türen des Jahres öffnen sich,
wie die der Sprache,
dem Unbekannten entgegen.
Gestern Abend sagtest du mir:
Morgen
Gilt es, ein paar Zeichen zu setzen,
eine Landschaft zu skizzieren, einen Plan zu entwerfen
auf der Doppelseite
des Papiers und des Tages.
Morgen gilt es,
aufs Neue,
Die Wirklichkeit dieser Welt zu erfinden.

 

In seinen Wünschen für das neue Jahr schaut Theodor Fontane zurück auf das alte Jahr; ja, auf all die Jahre vorher, die er schon erlebt hat. Scheitern und Vollbringen sind in ihnen enthalten – vielleicht bringt ja das neue Jahr etwas, das gelingt und in die Zukunft hineinleuchtet.

Ein neues Buch, ein neues Jahr
Was werden die Tage bringen?
Wird's werden, wie es immer war,
Halb scheitern, halb gelingen?
Ich möchte leben, bis all dies Glüh'n
Rücklässt einen leuchtenden Funken.
Und nicht vergeht, wie die Flamm' im Kamin,
Die eben zu Asche gesunken.

 

Das ist nur einer von den vielen Wünschen, die uns ins neue Jahr über die Lippen gehen. A guets neiss! sagt man im Schwäbischen, „Ein gutes neues“! Gemeint ist natürlich das neue Jahr; das Jahr selbst fällt der Maulfaulheit zum Opfer. Die Wiener Philharmoniker werden bei ihrem Neujahrskonzert im Chor wünschen: „Prosit Neujahr!“ Ich selbst bevorzuge die Formulierung: „Ein gesegnetes neues Jahr“, das hiermit allen Hörerinnen und Hörern von Herzen gewünscht sei.

Die Wünsche, die der Schweizer Dichterpfarrer Kurt Marti mir mit auf den Weg gibt, nehme ich besonders gern entgegen. Nicht nur das eigene Glück wird zum Wusch, sondern auch das Glück der Menschen um mich herum. Ich muss mir selber glücken, das heißt: Meinen weißen Jahresbogen so beschriften, dass ich darin in Freude und Verantwortung vorkomme. Dass man sich auf diese Weise selbst glückt, ist eine Grundlage dafür, dass Menschen um mich herum Glück erfahren:

Glückwünsche

dass du dir
(hie und da)
glückst

dass Glück
dich nicht blende
für Unglücke
anderer

dass Unglück
dich nicht verschlinge
für immer

dass dir
(ab und zu)
ein Glück für andere
glücke

dass dein Wunsch nicht sterbe
nach einer Welt,
wo viele (wo alle?)
sich glücken können.

Auch Wilhelm Busch hält mit seinen guten Wünschen nicht hinterm Berg. Er verbindet das Glück, das das neue Jahr bringen möge, mit der eigenen Mühe. Das Betreten und Beschreiten des neuen Jahres entbindet mich nicht von der immer wiederkehrenden Pflicht, mich um das Glück zu kümmern.

Zu Neujahr

Will das Glück nach seinem Sinn
Dir was Gutes schenken,
Sage Dank und nimm es hin
Ohne viel Bedenken.

Jede Gabe sei begrüßt,
Doch vor allen Dingen:
Das, worum du dich bemühst,
Möge dir gelingen.

 

Was Glück ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Was alles dabei sein muss, damit das neue Jahr glücke, ist durchaus nicht von vorneherein klar. Es gibt Wünsche, die in ihrer Maßlosigkeit verblüffen.  Dahingegen sind es die scheinbar geringen Wünsche, die das neue Jahr lebenswert machen können, so wie es die unvergessene Sängerin Nicole zum Eurovision Song Contest 1982 sang: „Ein bisschen Frieden…“ Für die Friedensbewegten jener und unserer Zeit ist das freilich zu wenig – es muss und es soll der weltweite Frieden sein. Dabei wird übersehen, dass ein Bisschen der Anfang einer Bewegung sein kann, an deren Ende der umfassende Frieden steht. Deshalb ist Bescheidenheit beim Wünschen kein Zeugnis nachlassender Geisteskraft, sondern Zeichen eines Realismus, der nach vorne offen ist. Peter Rosegger begehrt seine Wünsche zum neuen Jahr in dieser Bescheidenheit, es klingt, als ob Nicole ihn zitiert habe:

Ein bisschen mehr Friede und weniger Streit
Ein bisschen mehr Güte und weniger Neid
Ein bisschen mehr Liebe und weniger Hass
Ein bisschen mehr Wahrheit - das wäre was

Statt so viel Unrast ein bisschen mehr Ruh
Statt immer nur Ich ein bisschen mehr Du
Statt Angst und Hemmung ein bisschen mehr Mut
Und Kraft zum Handeln - das wäre gut

In Trübsal und Dunkel ein bisschen mehr Licht
Kein quälend Verlangen, ein bisschen Verzicht
Und viel mehr Blumen, solange es geht
Nicht erst an Gräbern - da blühn sie zu spät

Ziel sei der Friede des Herzens
Besseres weiß ich nicht.

 

 

Der Neujahrstag ist nicht mehr der kürzeste Tag im Jahr, der liegt bereits seit zehn Tagen hinter uns. Friedrich Rückert weiß es und legt es nahe in seinem Gedicht zum neuen Jahr. In seinem aufsteigenden Licht erscheint die Zukunft hell und klar, sogar dann noch, wenn es nicht nur Gutes ist, was das neue Jahr bringen mag. Schönheit und Klarheit wünscht sich der Dichter:

Nun ist das Licht im Steigen,
Es geht ins neue Jahr.
Lass deinen Muth nicht neigen,
Es bleibt nicht wie es war.
So schwer zu sein, ist eigen
Dem Anfang immerdar,
Am Ende wird sichs zeigen,
Wozu das Ganze war.
Nicht zage gleich den Feigen
Und klag' in der Gefahr!
Schwing auf zum Sonnenreigen
Dich schweigend wie der Aar!
Und wenn du kannst nicht schweigen,
So klage schön und klar!

 

Unter dem Schnee des Neujahrstages liegt das Lebendige von morgen. Es wartet nur darauf, dass es in der kommenden Wärme aufwachen und wachsen kann. Davon handelt das Gedicht von Emil Besser mit dem Titel Januar:

Das weite todesmüde Schweigen;
Die kalte Klarheit in der Luft;
Die Bäume mit den kahlen Zweigen;
Auf frischem Schnee ein blauer Duft;

– Und drunter all das junge Leben,
Um dessen still verborgnes Sein
Schon ahnungsvolle Träume schweben
Von einer Welt im Sonnenschein.

Die Frage ist nur: Was ist es eigentlich, das da unter dem frischen Schnee wartet? Es wäre vermessen, wenn man vermutete, dass alles in klarem Licht und unter einem gütigen Stern geschehen werde. Gutes und Schweres sind miteinander vermengt und verschränkt, das wird im neuen Jahr nicht anders sein als im alten. Unter allen Freundlichkeiten, auf die uns der Neujahrsmorgen hoffen lässt, kann sich manches verbergen, was uns mit Sorge erfüllt, uns Angst macht oder gar verzweifeln lässt. Johann Peter Hebel hat in seinem Neujahrslied beides präzise erfasst, Freude und Schmerz am Neujahrstag:

Mit der Freude zieht der Schmerz
Traulich durch die Zeiten.
Schwere Stürme, milde Weste,
Bange Sorgen, frohe Feste
Wandeln sich zur Seiten.

Und wo eine Träne fällt,
Blüht auch eine Rose.
Schon gemischt, noch eh’ wir’s bitten,
Ist für Throne und für Hütten
Schmerz und Lust im Lose.

War’s nicht so im alten Jahr?
Wird’s im neuen enden?
Sonnen wallen auf und nieder,
Wolken geh’n und kommen wieder
Und kein Wunsch wird’s wenden.

Gebe denn, der über uns
Wägt mit rechter Waage,
Jedem Sinn für seine Freuden,
Jedem Mut für seine Leiden
In die neuen Tage.

Jedem auf dem Lebenspfad
Einen Freund zur Seite,
Ein zufriedenes Gemüte
Und zu stiller Herzensgüte
Hoffnung ins Geleite.

 

Dass Lebenslust und Lebensleiden sich die Waage halten, zeugt für viele schon von einem großen Optimismus.  Ein neues Jahr kann doch auch dunkel, schwermütig und traurig werden; graue Wolken können die Sonne auf Tage und Wochen, auf das ganze Jahr hin verdunkeln. Gottfried Keller lässt uns vor allem an seiner Verzweiflung teilhaben, die manches Gemüt an diesem Morgen befallen mag:

So werd ich manchmal irre an der Stunde,
An Tag und Jahr, ach, an der ganzen Zeit!
Sie gärt, sie tost, doch mitten auf dem Grunde
Ist es so still, so kalt und zugeschneit!

Habt ihr euch auf ein neues Jahr gefreut,
Die Zukunft preisend mit beredtem Munde?
Es rollt heran und schleudert weit, o weit!
Zurück euch, ihr versinkt im alten Schlunde!

O hätt den Hammer ich des starken Thor,
Auf das Jahrhundert einen Schlag zu führen,
Ich schlüg sein morsches Zeigerblatt zu Trümmern!

Tritt denn kein Uhrenmacher kühn hervor,
Die irre Zeit mit Macht zu regulieren?
Soll sie denn ganz in Staub und Rost verkümmern?

 

Kein Uhrmacher, sondern ein Zimmermann mit Hammer und Nagel ist es, den einst ein Weiser seinem König wünschte. Nachdem ihm dieser sein ganzes Glück erzählt, seinen ganzen Reichtum gezeigt hat, lobt ihn der Weise dafür. Aber er bemängelt: „Eines fehlt dir.“ Der König ist verwirrt und fragt: „Was kann mir denn noch fehlen? Ich habe alles, was ein Mensch sich nur wünschen kann.“ Der Weise antwortet: „Dir fehlen ein Hammer und ein Nagel. Mit dem Hammer musst du den Nagel in die Speichen schlagen, der das Rad des Jahres anhält – damit die Zeit stehenbleibt und alles so bleibt, wie es ist.“ Der Neujahrstag macht mir in aller Deutlichkeit klar, dass meine Zeit verrinnt und der Tag kommen wird, der mein Letzter auf dieser Erde sein wird.

 

„Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang“, heißt es im berühmten 23. Psalm. Nicht billiger Optimismus spricht sich in diesen Worten aus, sondern die Erfahrung, dass der, der dieses dichtet und betet, sich gehalten weiß, wenn sein Weg „im finstern Tal“ verläuft. Ein finsteres Tal ohne Ausweg, so steht das Ende des kurzen Lebens Dietrich Bonhoeffers vor meinem inneren Auge. Er befindet sich in einem Gefängnis, unsicher, welches dunkle Schicksal auf ihn wartet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass man ihn ermordet, wie es denn endlich auch geschieht. Er ist getrennt von seinen Lieben, vor allem von seiner Verlobten Maria von Wedemeyer, die er noch gar nicht richtig kennt. Was bleibt in solcher Lage zu sagen? In dieser Situation verfasst Bonhoeffer ein Gedicht, das heute zum festen Bestand christlicher Dichtung und christlichen Gesanges gehört:

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen

das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Was sind das für gute Mächte, die in der Dunkelheit und Beengtheit der Gefängniszelle zu behüten und zu trösten vermögen? Es gibt die Vermutung, dass der Dichter damit Engel gemeint habe. Wie dem auch sei, sicher ist, dass er die Kraft Gottes schildert. Sie ist vorhanden auch bei düsterster Prognose, aber sie öffnet auch Räume des Hoffens auf Leben mitten in der diesseitigen Welt. So gehen sie zusammen, die Aussicht auf die Hinrichtung und die Sehnsucht nach Licht, Freiheit und Begegnung mit den Lieben. Wie aber auch immer die Zukunft aussehen mag, das Lob Gottes führt Vergangenheit und Zukunft, Ferne und Nähe, Leben und Tod zusammen. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

In dieser Gewissheit mag auch Hanns Dieter Hüsch seine hoffnungsvollen Verse schmieden:

Ich bin vergnügt
erlöst
befreit
Gott nahm in seine Hände
Meine Zeit
Mein Fühlen Denken
Hören Sagen
Mein Triumphieren
Und Verzagen
Das Elend
Und die Zärtlichkeit.

Was macht, dass ich so furchtlos bin
An vielen dunklen Tagen
Es kommt ein Geist in meinen Sinn
will mich durchs Leben tragen.

 

In der Sprache der Bibel sind immer wieder Elend, Not und Zuversicht neben- und ineinander gestellt. Und am Ende wird das wahr, zu dem am Anfang Hölderlin ermutigt hat – „Komm! ins Offene, Freund!“ –, aber nun nicht mehr als Forderung, sondern als Gnade und Geschenk. Darin liegt wohl das Geheimnis des Glücks, das wir im neuen Jahr erwarten – nicht, dass alles so läuft, wie wir wollen, nicht dass alles nur Freude und Vorankommen ist, sondern dass in allen unseren Bedrängnissen Gott den weiten Raum schenkt, den wir betreten, in dem wir atmen und leben dürfen. In einem Psalmgebet fasst ein Dichter das so zusammen: „Ich freue mich und bin fröhlich über deine Güte, dass du mein Elend ansiehst und kennst die Not meiner Seele…; du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Psalm 31,9).

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

1. Morgenstimmung, Edward Grieg, CD-Titel Edward Grieg. Peer Gynt

2. Menuet in G, Tatjana Vorobjova, CD-Titel Johann Krieger Sechs Musicalische Partien

3. Gavotte in G, Tatjana Vorobjova, CD-Titel Johann Krieger Sechs Musicalische Partien

4. Menuet, Tatjana Vorobjova, CD-Titel Johann Krieger Sechs Musicalische Partien

5. Menuet in a, Tatjana Vorobjova, CD-Titel Johann Krieger Sechs Musicalische Partien

6. Allemande, Tatjana Vorobjova, CD-Titel Johann Krieger Sechs Musicalische Partien

31.12.2021
Diederich Lüken