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"Tröstliche Tropen"
Albert Schweizer in der Kritik
30.06.2024 05:05

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Er sehe aus wie „ein naher Verwandter des lieben Gottes“, höhnte 1962 der Spiegel. Und er benehme sich auch so. Die Rede ist von Albert Schweitzer. Schweitzer war promovierter Theologe, Doktor der Philosophie und der Medizin, Bachforscher, Organist, Orgelbauer und Friedensnobelpreisträger, kurzum: ein „Genie der Menschlichkeit“ oder „der Universalmensch“ schlechthin.

So wurde er meiner Generation vorgestellt, in der Volksschule schon und erst recht im Religionsunterricht auf dem Gymnasium Mitte der 60er Jahre. Da lebte Albert Schweitzer noch. Er starb 1965 im Alter von 90 Jahren.

Aus meiner Abi-Klasse wurden drei Schüler evangelische Pfarrer, drei von 17. Und bei uns dreien hatte das auch mit Albert Schweitzer und seinem Hospital in Lambarene zu tun. Da war ein nachdenklicher Theologe, der Glauben und praktizierte Menschlichkeit miteinander verband, der Orgel spielte und darüber hinaus ein großer Tierfreund war. Viele Teenager lasen Mitte der 60er mit Begeisterung die Zeitschrift „Der kleine Tierfreund“, damals noch schwarz-weiß.

Warum wurde gerade Albert Schweitzer nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland so populär? Klar: Lambarene im afrikanischen Gabun und die Erzählung vom Urwalddoktor dienten Jugendlichen wie Älteren als Leitbild. Gelöst ist das Rätsel der enormen Popularität von Albert Schweitzer damit nicht.

Die Journalistin und Autorin Caroline Fetscher fragt in ihrem Buch „Tröstliche Tropen“, das voriges Jahr erschienen ist:

 „Warum und wie wurde ausgerechnet diese Erzählung derart triftig, derart machtvoll? Worum ging es bei dem ‚Afrika‘, das mit Lambarene transportiert wurde? Wie verhält sich die […] Schweitzer-Erzählung zu ihrem zeithistorischen Umfeld, zum Weltkrieg und zur Shoah“

Fetscher beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Albert Schweitzer. Auch wenn es manchmal so klingt, ist Tröstliche Tropen weniger eine Kritik an Albert Schweitzer. Fetscher kritisiert, wie Albert Schweitzer rezipiert wurde. Sie kritisiert die Funktion der Erzählungen vom Urwalddoktor und seinem Krankenhaus im Nachkriegsdeutschland.

Caroline Fetschers Buch „Tröstliche Tropen“ ist vor allem eine Dekonstruktion des Mythos Albert Schweitzer und Lambarene. Als Geburtsjahr dieses modernen Mythos könnte das Jahr 1949 bezeichnet werden, meint Fetscher.

 „Hatten die Westdeutschen damit gehadert, dass ihr Territorium zur ‚Kolonie‘ der Alliierten geworden war, wuchs ihnen 1949 genau im richtigen Moment, nämlich parallel zur Republikgründung, eine Lichtgestalt zu. Das geschah, wie wenigen bewusst war, ausgerechnet im Land der mächtigen amerikanischen Sieger, auf deren Initiative nach einem ‚guten Deutsche‘< gefahndet worden war.“

Die US-Amerikaner brauchten einen guten Deutschen, schließlich sollte Deutschland nicht allein demokratisch werden, sondern ein starker Verbündeter im Kalten Krieg. Das aber war schwer zu vermitteln, war das besiegte Land doch gerade noch ein aggressiver teuflischer Feind.

Deutschlands Ruf musste verbessert werden. Man entwickelte dazu …

„ein spektakuläres Projekt, das über Amerika hinaus bekannt wurde: das Goethe Bicentennial and Music Festival vom 27. Juni bis 16. Juli 1949 in Aspen/Colorado. Es sollte Tausende von Besuchern anziehen und als Hauptredner den ‚jungle doctor‘ Albert Schweitzer bieten“.

In Vergessenheit geriet dabei, dass Albert Schweitzer 1875 im besetzten Elsass zwar als Deutscher geboren wurde, ab 1918 jedoch Franzose war. Man habe, meinte Richard von Weizsäcker ein halbes Jahrhundert später im selben Aspen, damals jemanden eingeladen, „der befugt ist, über die aus dem deutschen Sprachraum kommende Kultur und Überlieferung zu sprechen“.

Auch ich hielt Albert Schweitzer als Kind und Jugendlicher für einen Deutschen. Dabei bin ich unmittelbar an der französischen Grenze aufgewachsen und Schweitzers Geburtsstadt Kaysersberg sowie sein Haus in Gunsbach im Elsass habe ich bereits als Teenager besucht.

Ich wusste, dass beide Orte in Frankreich liegen. Aber ich war nicht der einzige, der Schweitzer für einen Deutschen hielt. Die amerikanische Presse jedenfalls war damals in Colorado von Schweitzers Auftritt begeistert. Wenige Jahre später war er in den USA ein Star.

Der Funke sprang nach Deutschland über und traf auf ein Land in merkwürdiger Verfassung. Die meisten Deutschen fühlten sich „kolonisiert“. Von der bedingungslosen Kapitulation 1945 bis zur Gründung der Bundesrepublik 1949 gab es keine deutsche Regierung. Die Sieger übten die Regierungsgewalt aus.

Ein Karnevalssong des Jahres 1948 avancierte in den drei Westzonen des besetzten Deutschlands zur heimlichen Nationalhymne: Karl Berbues Die Eingeborenen von Trizonesien.

Das ist ein aufschlussreicher Text - auch durch das, was nicht drin vorkommt. Nazi-Terror, Rassenwahn, Shoah, Vernichtungskrieg werden unter „alte Zeiten“ subsumiert, die nun mal vorbei sind, „die Welt geht weiter, eins, zwei, drei“. Und auch wenn in deutschem Namen Millionen Menschen ermordet wurden, Menschenfresser sind wir keine! Trizonesier haben vielmehr Kultur und Geist.

Das klingt forsch, auch herausfordernd. Caroline Fetscher hört aus dem Song „präpotente Heiterkeit“ heraus. Und doch ist der Song ein Ausdruck von Verzweiflung.

 „Hinter dem Sarkasmus wird die bedrückende Schwierigkeit hörbar anzuerkennen, dass man nach dem Scheitern des megakolonialen Unterfangens, dem ‚morgen die ganze Welt‘ gehören sollte, unter totalem Kontrollverlust kolonisiert war.“

In dieser Nachkriegs-Situation entwickelt sich der Mythos Albert Schweitzer und Lambarene:

„Die verwaiste, ‚führerlose‘ Bevölkerung sehnte sich nach übergeordneten, sinnstiftenden wie entlastenden Instanzen. Der Arzt Schweitzer, der Goethe und Bach im Schlepptau hatte, verfügte […] über bestechende Vorzüge. Zudem hatte Schweitzer den Vorzug, in der Ferne gelebt zu haben, jedoch nicht als emigrierter ‚Deserteur‘, wie man es Willy Brandt oder Thomas Mann vorwarf.“

Und als Philosoph und Theologe, Wissenschaftler und Musiker stand er für deutsche Kultur und deutschen Geist. Für die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg meint Fetscher:

„(…) für die Genesung der Tätergesellschaft wäre es zentral gewesen zu erkennen, welches Leid sie wem und warum zugefügt hatte, um Empathiearmut zu überwinden. Auf diese schmerzhafte Zumutung, einen Angriff auf Ich-Ideal und Selbstwert, wollten sich die wenigsten einlassen. Wohl aber gab es die Bereitschaft, auf verschobenem Terrain symbolische Sühneleistungen zu erbringen.“

Spenden für Lambarene. Unzählige Bücher, Artikel und Broschüren über Schweitzer und Lambarene in der Nachkriegszeit folgten einer oft schlichten Logik, kritisiert Fetscher:

„Schweitzer ist ein guter Mensch, wir lieben Schweitzer, also sind wir gute Menschen.“

1955, zu Schweitzers 80. erscheint das Buch „Albert Schweitzer. Ein Mann der guten Tat“. Auf dem Cover steht ein weiß gekleideter großer alter Mann mit Tropenhelm und gewaltigem weißem Schnauzer. Mit seiner rechten Hand berührt er den Kopf eines afrikanischen Jungen, der zu ihm aufschaut und ihn anstrahlt. (Bernhard Goetz, Albert Schweitzer Ein Mann der guten Tat, 1955)

Auch in Lambarene bleibt die vermeintliche Überlegenheit der Weißen erhalten: „oben der weiße Doktor, unten die auf Heilung hoffenden, abergläubischen Kranken.“

Ich habe dieses Jugendbuch „Ein Mann der guten Tat“ als Junge gelesen. Mit Begeisterung für Albert Schweitzer. Den „Rassismus unter dem Vorzeichen des Humanitären“, wie Caroline Fetscher urteilt, habe ich Mitte der 60er Jahre nicht bemerkt.

Albert Schweitzers Worte seien für die Deutschen „Evangelium“, soll Konrad Adenauer erklärt haben. Caroline Fetscher bezieht sich darauf und übt harsche Religionskritik:

 „Die Deutschen selbst bauten sich mit Lambarene einen Sühnealtar, auf dem sich dem Verkünder des Evangeliums und dessen Werk wie beim Ablasshandel opfern ließ. So kam der lebende Heilige Schweitzer auf den Weg, über Kulthandlungen - Spenden, Beten, Anrufen, Darstellen, Abbilden und Besprechen - zum Mythos zu werden.“

Caroline Fetschers Buch „Tröstliche Tropen“ ist eine Dekonstruktion des Albert-Schweitzer-Lambarene-Mythos. Sie zertrümmert die Heiligenscheine, die viele Hagiographen ihm auferlegt haben.

Albert Schweitzer, jedenfalls dem jungen Schweitzer, hätte diese Dekonstruktion seines Mythos gefallen, vermute ich. Denn der junge Schweitzer dekonstruierte selbst. Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb er über 150 Jahre historisch-kritische Erforschung des Lebens Jesu. Am Ende seines Werkes formuliert er:

„Der Jesus von Nazareth, der als Messias auftrat, die Sittlichkeit des Gottesreiches verkündete, das Himmelreich auf Erden gründete und starb, um seinem Werke die Weihe zu geben, hat nie existiert. Er ist eine Gestalt, die vom Rationalismus entworfen, vom Liberalismus belebt und von der modernen Theologie in ein geschichtliches Gewand gekleidet wurde. Dieses Bild ist nicht von außen zerstört worden, sondern in sich selbst zusammengefallen.“

Wegen dieser kritischen Theologie, denke ich, wurde Albert Schweitzer als Missionar abgelehnt. Und man empfahl ihm, doch lieber als Arzt nach Afrika zu gehen. Religions- und Theologiekritik jedoch gehören zum Handwerkszeug theologischer Arbeit.

Von daher nehme ich Caroline Fetschers Kritik ernst. Und habe von ihr gelernt, welch zwiespältige Rolle die Schweitzer-Rezeption im Nachkriegsdeutschland gespielt hat.

Diesen Part jedoch spielt Albert Schweitzer heute nicht mehr. Als „Heiliger“ wird er nur von wenigen wahrgenommen. Spenden für Lambarene, die Fetscher als Ablass kritisierte, werden kaum mehr erbeten. Das Spital finanziert hauptsächlich der Staat Gabun.

Was bleibt dann von dem Theologen und Philosophen, von dem Arzt und Organisten Albert Schweitzer jenseits des Mythos, der aus ihm und seinem Leben gemacht wurde?

Was bleibt von Albert Schweitzer? Neben solchen Originalaufnahmen von ihm an der Orgel wie der gerade gehörten Bach-Toccata aus 1938.

Darüber habe ich mit Jenny Litzelmann geredet. Sie ist Philosophin und Direktorin des Schweitzer-Museums in Gunsbach im Elsass. Schweitzers „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“ werde bleiben, meint Litzelmann. Ähnliche ethische Vorstellungen habe es vor ihm gegeben, in der Antike bereits, allerdings nicht in dieser Radikalität.

Was ist so radikal an Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben? Jenny Litzelmann beschreibt es so:

 „Er hat einmal Bakterien betrachtet in seinem Mikroskop und hat sich gefragt: Habe ich das Recht, diese Millionen Lebewesen zu töten, um einen Menschen zu retten?

Also natürlich hat er immer die Menschen gerettet, aber für Albert Schweitzer war das eine subjektive Wahl und nicht weil der Mensch das Leben mehr verdient.  Jedes Lebewesen ist heilig, Mensch oder Bakterie.

Um zu leben, muss ich essen, muss ich zum Beispiel Pflanzen töten. Die Natur ist so, das Leben muss andere Leben töten, um zu überleben. Aber das Wesen der Menschheit ist nicht das Wesen des Universums.

Albert Schweitzer will nicht nur eine Definition von einem ethischen Menschen geben. Er will ganz klar sagen, dass wenn diese Ethik ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ nicht von einer Weltzivilisation in die Praxis umgesetzt wird, dann geht diese Weltzivilisation verloren. Und das ist die Radikalität für mich.“

Albert Schweitzer selbst begründete seinen Aufruf zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben so:

 „Diese Ethik macht keinen Unterschied zwischen wertvollem und weniger wertvollem, höherem und niederem Leben. Sie lehnt eine solche Unterscheidung ab. Denn der Versuch, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen anzunehmen, läuft im Grunde darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserem Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen. Dies aber ist ein ganz subjektiver Maßstab. Wer von uns weiß denn, welche Bedeutung das andere Lebewesen an sich und im Weltganzen hat?“

Albert Schweitzer fährt fort mit seiner ethischen Grundformel, die berühmt geworden ist:

 „Die unmittelbare Tatsache im Bewusstsein des Menschen lautet: ‚Ich bin Leben das leben will, inmitten von Leben, das leben will.‘ Diese allgemeine Bejahung des Lebens ist eine geistige Tat, in der der Mensch aufhört dahinzuleben, in der er vielmehr anfängt, sich seinem Leben mit Ehrfurcht hinzugeben und ihm seinen wahren Wert zu geben.“

Mit dieser Ethik könnte sich Albert Schweitzer unmittelbar in die heutigen Kontroversen einmischen, in Diskussionen um den extremen Fleischkonsum, die Rechte von Tieren oder die richtige Ernährung. Diskussionen, die auch in den Familien geführt werden.

In vielen Gesprächen geht es heute um die Wurscht, buchstäblich und bildlich, und dabei auch um die Angst vor Verzicht und kulturellem Verlust. Albert Schweitzers Ethik machte keine Angst, jedenfalls uns als Jugendlichen nicht. Seine Ehrfurcht vor dem Leben machte Lust auf ein Leben im Einklang mit den immer fremden anderen Menschen und mit aller Kreatur.

Aus diesem Denken heraus lehnte Albert Schweitzer die Nationalismen seiner Zeit ab, den deutschen wie den französischen. Muss man womöglich aus dem Elsass kommen und zweisprachig sein, um eine Nation nicht für etwas Besseres zu halten? Das habe ich Jenny Litzelmann gefragt, die selbst aus dem Elsass stammt.

 „Es ist eine schwierige Frage. Weil nicht alle Elsässer standen über Nationalismus, weder in Schweitzers Zeit noch heute. Albert Schweitzer bedauerte immer, dass er sich rechtfertigen muss an welche Kultur er angehörte, deutsche, französische. Weil Nationalismus war für Albert Schweitzer eine Psychopathologie. Er war sehr sehr fern von der Idee der Nation.

Also die Idee der Nation kommt von einem Willen zur Macht von dieser Nation und das ist Megalomanie, Größenwahn. Und dann hat man Angst, dass andere Nationen diese Macht auch möchten und dann kommt noch Paranoia. Und so beginnt ein Teufelskreis zwischen Megalomanie und Paranoia. Und das ist Nationalismus.

Aber für Albert Schweitzer ist es ganz klar: Entweder ist man ein Mensch des Friedens oder versinkt man in diese psychische Krankheit von Nationalismus. er hat nie geantwortet auf solche Anfragen, ob er mehr deutsch oder französisch ist, weil das für ihn, was wichtig war, ist eine Weltzivilisation, geeint wenn möglich um die Ehrfurcht vor dem Leben. Und er hat immer gesagt: Ich bin ein Mann von Gunsbach und ein Weltbürger.“

Das klingt so einfach: „Ich bin ein Mann von Günsbach und Weltbürger.“ Es ist allerdings ein Satz voller Spannung. Schweitzer beharrt in diesem Sätzchen auf Identität und Heimat. Er stammt aus diesem elsässischen Dorf und blieb ihm ein Leben lang verbunden. Im gleichen Atemzug fühlt sich Albert Schweitzer dieser einen Welt verbunden. Dafür braucht es einen langen Atem. Und den hat er. Bis heute.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

   1. Albert Schweitzer an der Orgel, Fantasie in G minor, BWV 542
   2. Karl Berbues, Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien
   3. Albert Schweitzer an der Orgel, Toccata in D Moll, BWV 565, 2.25
   4. Albert Schweitzer an der Orgel, Fugue in D minor, BWV 565, maximal 6,33 (Dezember 1938)

Literatur dieser Sendung:

   1-9. Caroline Fetscher, Tröstliche Tropen, Teil I, 2023, 5f, sowie
          S. 21, S. 60, S. 95, S. 106, S. 178, S. 51, S. 221
   10.  Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1984, S. 620