Hagar

Gemeinfrei via unsplash / Fahri Ramdani

Hagar
Morgenandacht von Ulrike Greim
04.02.2023 - 06:35
29.01.2023
Ulrike Greim
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Die Sendung zum Nachlesen: 

Wo kommst du her, fragt der Engel. Hagar schaut verwundert auf. Das ist das erste Mal, dass sie jemand etwas fragt. Bisher hatte sie keine Stimme. Kein Ton ist von ihr bekannt. Vielleicht wusste sie selbst nicht einmal, wie sie klingt. Was hätte sie schon zu sagen gehabt. Sie ist eine Sklavin. Zu reden hatten ihre Herrin, Sarah, und der Chef des Hauses, Abraham, der Erzvater der Religionen. In der Hackordnung steht sie ziemlich weit unten. Sie hat nichts zu bestimmen, sie kann nicht über ihre Stimme verfügen, nicht einmal über ihren Körper. Sie hat zu gehorchen. In einer hierarchischen, nomadischen Sippe nichts Ungewöhnliches. Und wenn die Chefin ein Kind will, muss Hagar sich hinlegen und alles über sich ergehen lassen. 

Wo kommst du her? – Aus dem Gefängnis. Aus dem schwarzen Loch des Schweigens. Da komm ich her. Ich fühle mich nicht, ich kann der Welt nichts entgegensetzen. Ich bin Luft. Selbst jetzt – mit Kind im Bauch. Ich habe gedacht, jetzt wird es besser, jetzt bin ich wer. Jetzt bin ich eine Mutter. Ich trage das Kind des Chefs. Ihr müsst mich doch hören! Keiner hat mich gehört. Nicht einmal ich selbst. Wenn ich verschwinde, wen kümmert es? Warum fragst Du?

Der Engel schaut ihr in die Augen. Ihr ist das unangenehm. Sie ist das nicht gewohnt. Bisher hat man durch sie hindurchgeschaut. Wo ich herkomme? Aus einem Nicht-Leben. Ich war nur ein Stück Fleisch. Sie will ausweichen. Der Engel bleibt. Sie muss sich erklären? Er bedrängt sie nicht.
Aber sie findet es unangenehm. Weil keiner sie hören will, hat auch sie ihre Stimme vernachlässigt. Die seelischen Stimmbänder sind untrainiert. Sie stottert, der Ton kommt kratzig, sie räuspert sich. Und merkt: Doch, da war mal ein Ton. Da ist eine Stimme. Leise zwar, aber vorhanden.
Und es ist der Blick des Engels, der ihr hilft, es zu probieren. Laut zu geben. Da zu sein.

Sie beginnt zu reden. Mit jedem Satz wird die Stimme klarer. Redet über sich. Über die unsäglichen Schmerzen der Ausbeutung. Über ihre Heimat Ägypten. Und dass endlich ihr Kinderwunsch in Erfüllung geht. Ja – und dass sie doch auch mitfühlt mit Abraham und Sarah. Und dass sie sie manchmal umbringen könnte – wenn sie Hände hätte, Arme, einen Körper. 

Es sprudelt nur so aus ihr heraus. Sie schaut an sich herab. Und sie sieht sich. Sie ist da. Sie ist jetzt hier. Sie ist ein Mensch. Hat Arme, Beine, einen Körper. Ja, sie hat Hände. Und – sie hat eine Stimme. Mit jedem Satz probiert sie mehr, wie das geht. Da-Sein. Die Stimme nutzen, sie trainieren. Hallo. Hört mich wer? Ich bin hier.

Der Engel hört. Er schaut. Und Hagar atmet auf. Sie wird gesehen. Es ist, als schaute Gott selbst sie an. Eine göttliche Instanz, eine Kraft aus der Höhe. Sie dachte, die ist nur für Abraham zugänglich. Nein, jetzt ist sie hier. Bei ihr, der Sklavin, der Flüchtenden. Der Schwangeren. Bei ihr und dem Baby.

Es wird warm in der Herzgegend. Sekunden vergehen wie Stunden. Der Atem wird ruhig. Langsam fließt sie wieder in den Körper zurück, diese Energie, die sie zu lange aus sich herausgepresst hatte, bis sie selbst nicht mehr wusste, dass sie sie hat. 

Ich bin eine Frau. Und ich trage ein Kind. Ihr werdet mich nicht kleinkriegen.

Es gilt das gesprochene Wort.

29.01.2023
Ulrike Greim