Kasatschok

Morgenandacht
Kasatschok
06.02.2021 - 06:35
28.01.2021
Ines Bauschke
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

„Höre, Gott, meine Stimme in meiner Klage, behüte mein Leben vor dem schrecklichen Tode!“ So heißt es im 64. Psalm (Vers 2).

Eine solche Klage habe ich in Italien gehört, mit einer ganz ungewöhnlichen Melodie:

 

Sonntagmorgen, 10 Uhr: In dem ligurischen Bergdorf Carpasio tönt ein Glockenspiel durch das Tal. Die Melodie kommt mir bekannt vor, doch es ist nicht die Melodie eines Kirchenliedes. Ich stutze verwundert. Und dann fällt es mir ein: Das ist kein italienisches Lied, das dort erklingt, sondern ein russisches.

 

Überrascht bin ich, als ich endlich darauf komme, was das für eine Melodie ist: Kasatschok, „Kosakentanz“, hier in den italienischen Bergen? Und das von Glocken gespielt? Unglaublich.

 

Das Rätsel löst sich bald. In einem Ortsteil von Carpasio, dem Dörfchen Costa auf dem benachbarten Bergrücken, gibt es ein Partisanenmuseum. Dort kann man einiges über die dramatische Zeit erfahren, als Italien von der deutschen Wehrmacht besetzt war. Viele junge Männer flüchteten damals in die Berge. Von dort leisteten sie als Partisanen Widerstand gegen die Nationalsozialisten.

 

Das Haus aus grauen Feldsteinen diente im Zweiten Weltkrieg als Partisanenquartier. Bomben, Granaten und Maschinengewehre sind hier ausgestellt, außerdem Uniformen und die Überreste eines abgeschossenen deutschen Flugzeugs. Es gibt Abschriften von Briefen, die junge Männer kurz vor ihrer Hinrichtung verfasst haben, Briefe an die Mama, an die Familie, herzzerreißend. Fotos zeigen erschossene Zivilpersonen und Partisanen, offenbar auch russische, die meisten sollen entflohene Zwangsarbeiter gewesen sein.

 

Zum Museum gehört auch der Stamm einer alten hohlen Kastanie, die man nach einem Fußmarsch durch den Wald erreicht. In dieser Kastanie wurden verwundete Partisanen versteckt, bis zu sieben Personen fanden Platz und Rettung im Inneren dieses mächtigen Baumes.

 

Und dann wird im Museum auch der Text eines Partisanenliedes ausgestellt. Es wurde gesungen zu der russischen Kasatschok-Melodie. Dieses Lied mit dem Titel „Fischia il vento“ - „Der Wind pfeift“ ist eins der bekanntesten italienischen Partisanenlieder. Es erinnert an die Kälte und Unwirtlichkeit, denen die Partisanen in den Bergen ausgesetzt waren, zusätzlich zu aller Gefahr. „Fischia il vento“ ist nach „Bella Ciao“ das bekannteste Widerstandslied aus der Zeit. Und dieses Lied wird jeden Tag zweimal abgespielt, morgens um 10 Uhr und abends um 19 Uhr: durch eine auf dem Museumsdach angebrachte Lautsprecheranlage, so dass es talauf und talab gut zu hören ist.

Diese Glocken aus dem Lautsprecher singen ein Lied der Klage und der Mahnung, die Melodie klingt hier nicht fröhlich, sondern eindringlich.

 

Ich bin sehr bewegt durch den Besuch in diesem Museum – unvermutet im Urlaub mit der schrecklichen deutschen Kriegsgeschichte konfrontiert, einmal wieder.

Auch Italien hat im Zweiten Weltkrieg unter deutscher Besatzung gelitten, nachdem die dortige faschistische Regierung mit dem Sturz Mussolinis entmachtet war. Bis heute erklingt in den ligurischen Bergen das Lied der Partisanen im Gedenken an deren Widerstand. Die Schrecken dieser Zeit sind bis heute im Gedächtnis der ligurischen Bevölkerung lebendig.

 

Museen wie dieses sind wichtig. Es sind Gedenkorte. Sie erinnern an tiefe Verletzungen, die wohl bis in die Zukunft hinein nie ganz werden abheilen können. Wenn Reisen wieder möglich ist, kann ich einen Besuch nur empfehlen. Wer Glück hat, trifft einen der alten Zeitzeugen. Mich lässt die Begegnung die italienischen Bewohner in Carpasio mit anderen Augen sehen: Dass diese mir nämlich so ausnahmslos freundlich und aufgeschlossen begegnen, weiß ich nun besonders zu schätzen.

Dafür bin ich sehr dankbar – und ich freue mich über eine stabile Zukunft, gemeinsam hier in Europa.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

28.01.2021
Ines Bauschke