Seelenanker

Morgenandacht
Seelenanker
24.09.2015 - 06:35
18.06.2015
Pfarrer Jost Mazuch

Was ist das: wenn man ihn braucht, wirft man ihn weg; wenn man ihn nicht braucht, holt man ihn zu sich? – Antwort: ein Anker! Der Anker ist tatsächlich an einem Schiff ein Gegenstand, den man nicht so oft braucht. Als wir mit unserer Gemeindegruppe auf Segeltour waren, hing er tagelang unbenutzt vorne am Schiff. Aber dann kam der Abend, als wir bei schwachem Wind nicht mehr in den Hafen kamen und unser Skipper vorschlug, auf dem Wasser zu übernachten. Er suchte vorsichtig eine passende Stelle, und dann rauschte laut rasselnd der Anker an seiner schweren Kette in die Tiefe. Es war ein spannender Moment, als die Kette sich straffte und wir merkten: jetzt liegen wir sicher vor Anker.

Wenn man ihn braucht, wirft man ihn weg. Dieser rätselhafte, etwas paradoxe Satz über den Anker hat auch im übertragenen Sinne eine schöne Bedeutung. Denn der Anker ist ein ganz altes christliches Symbol. „Wir halten uns fest an der Hoffnung, die wir als einen sicheren und festen Anker unserer Seelen haben“, heißt es im Hebräerbrief in der Bibel. Anker als Hoffnungssymbole findet man schon auf Wandzeichnungen in den römischen Katakomben, wo die ersten christlichen Gemeinden sich heimlich zum Gottesdienst trafen. Anker wurden damals, vor fast zweitausend Jahren, schon ganz ähnlich dargestellt wie sie heute noch aussehen: als Stockanker mit einem kreuzförmigen Stiel – so enthält ein Anker eben auch einen heimlichen und doch deutlichen Hinweis auf das Kreuz Christi.

Wenn man ihn braucht, wirft man ihn weg. Wie der Anker, so ist auch die Hoffnung nichts, was man ständig braucht; nichts, worüber man dauernd nachdenkt. Aber in Notzeiten, da bin ich ohne Hoffnung aufgeschmissen. Wenn mir die Gewissheiten wegbrechen, die immer gegolten haben; wenn ich einen Halt brauche, den ich mir selbst nicht geben kann – dann brauche ich die Hoffnung.

Hoffnung ist nicht so gut sichtbar wie der Anker eines Schiffes. Doch wie der Anker nicht selbst Halt gibt, sondern ein Schiff am Grund festmacht, ist es auch mit der Hoffnung. Nicht sie selbst gibt mir den Halt, den ich brauche. Sondern Hoffnung dient dazu, dass ich mich woanders festmachen kann. Ein Anker, der nur am Schiffsbug hängt, kann keinen Halt geben. Genauso kann ich mir nicht selbst den Halt geben, den ich brauche. Wie beim Anker scheint es mit der Hoffnung paradox: je mehr ich Halt benötige, umso mehr muss ich loslassen!

Für Christen ist Jesus Christus der Grund, an dem ihre Hoffnung sich als Anker festmacht. Hoffnung heißt dann, auf diesen Grund zu vertrauen. Nicht, sich festzuklammern, sondern den Anker auswerfen und sich halten lassen.

Ankern will gelernt sein und braucht Übung. Ein verantwortungsvoller Kapitän wird seine Ankerkette regelmäßig überprüfen, damit der Anker im Bedarfsfall auch hält. Genauso sollte man seine Hoffnung nicht einrosten lassen, sondern sie immer wieder aktivieren. Wenn ich mit Anderen darüber spreche, was ihnen Halt gibt, dann stärkt mich das auch. Wenn ich mit anderen bete, teilen wir unsere Hoffnung und sie wächst. Darum kann es gut tun, sich ab und zu freiwillig in die schwierigen Bereiche des Lebens zu begeben. Dort erfährt man, dass gemeinsame Hoffnung ein Anker für die Seele ist.

Menschen, die anderen in seelischer und körperlicher Not beistehen, erleben das immer wieder. Sie fühlen sich selbst dadurch bereichert. Eine Frau, die sich in der Kirchengemeinde um demenzkranke Menschen und ihre Angehörigen kümmert, sagte: „Ich bekomme da selbst ganz viel zurück. Ich erlebe so schöne und überraschende Begegnungen. Ich habe jetzt nicht mehr so viel Angst vor dieser Krankheit. Und ich habe die Hoffnung, dass ich selbst auch nicht alleingelassen bin, wenn es mir so gehen sollte.“

18.06.2015
Pfarrer Jost Mazuch