Der alte Vater

Wort zum Tage
Der alte Vater
02.12.2020 - 06:20
02.12.2020
Pfarrerin Marianne Ludwig
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Nie beklagt er sich. „Ich bin zufrieden“, sagt der 80jährige, wenn seine Tochter ihn am Telefon  fragt, wie es ihm ginge. „Ich bin zufrieden“ - dabei weiß sie: Das Gehen wird für den Vater immer beschwerlicher, sein Gedächtnis lässt deutlich nach und sicher fühlt er sich manchmal einsam, seit die Mutter vor sechs Jahren gestorben ist. Weil die Tochter mit der Familie in einer anderen Stadt wohnt, sehen sie sich nicht so häufig und sie versucht, aus der Ferne für ihn da zu sein. Vieles wäre leichter, wenn sie ihn zu einem Umzug bewegen könnte, aber „einen alten Baum verpflanzt man nicht“, sagt er dann.

Gut, dass er sich noch ganz gut selbst versorgen kann und dass es Menschen gibt, die nach ihm schauen. Und selbst wenn sie ihn jetzt in der Adventszeit besuchen wollte, sie hätte Sorge, ihn zu gefährden. Wie lieb von ihm, dass er sie so entlastet in ihrer Sorge mit seinem Satz: „Ich bin zufrieden!“

Wenn sie sich Weihnachten vorstellt, hat sie richtig Sehnsucht nach ihrem Vater. Es gab bisher nur wenige Feste, die sie nicht zusammen verbracht hatten und wer weiß, wie oft sie überhaupt noch gemeinsam feiern werden. Die Sehnsucht schmerzt, genauso wie die Ungewissheit. Das hat sie am Sonntag ganz deutlich gespürt, als sie mit den Kindern zusammensaßen und die erste Adventskerze anzündeten. Was kann sie nur tun?

Beim ersten Lockdown im Frühjahr hatten sie öfter per Video miteinander gesprochen. Sie hatte einen Nachbarn gebeten, ihm den Computer einzuschalten. Das ging damals - mit ein paar Vorsichtsmaßnahmen - ganz gut. Er strahlte, als er auf einmal ihre Gesichter auf dem Bildschirm sah. Schade, dass das Gespräch nicht sehr lang dauerte, denn dafür reichte seine Konzentration nicht. Aber es tat gut, seine Freude zu sehen.

Nun steht aber Weihnachten vor der Tür und sie würde so gern die Festfreude von früher mit ihm teilen: Den Weihnachtsbaum schmücken, Plätzchen essen, Weihnachtsmusik hören. Als die Kinder noch kleiner waren, haben sie auch viel gesungen. Auch der Großvater brummte mit seiner tiefen Stimme mit. Leider hat das gemeinsame Singen in den letzten Jahren nachgelassen, immer öfter stellen sie das Internetradio an. Schade eigentlich. Vielleicht ist es Zeit, das zu ändern. Beim nächsten Videocall könnten sie dem Großvater die alten Lieder vorsingen. „Maria durch ein Dornwald ging“ zum Beispiel, das ist ihr Lieblingslied. Und irgendwie passt es in diesem Advent ganz besonders, findet sie.

Es gilt das gesprochene Wort. 

02.12.2020
Pfarrerin Marianne Ludwig