Der Vorsprung Leben

Wort zum Tage
Der Vorsprung Leben
28.01.2021 - 06:20
21.01.2021
Ulrike Greim
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Stell dir vor, da ist einer, der dem Leben alles zutraut. Alles. Und stell dir vor, du kennst den Menschen, denn der wohnt in der Etage unter dir. Du hörst ihn manchmal Klavier spielen.

Ganz unscheinbar sieht er aus. Aber er hat immer eine volle Hütte. Also in normalen Zeiten, anderen als diesen. Anderen ist der neue Nachbar suspekt, weil da Leute bei ihm ein- und ausgehen, die man nicht zuordnen kann.  Leute von überall her. Studiert der? Oder was macht der? Klug ist er und höflich. Nimmt sich Zeit für einen Schwatz. Und lädt einen ein. So was macht man hier sonst nicht. Man ist höflich, aber man geht sich aus dem Weg.

 

Aber der – der schließt auch abends seine Tür nicht ab. Alle wissen, dass der Schlüssel notfalls unter der Matte liegt. Und neulich, sagt die Brünette aus dem Erdgeschoss, sei ein Penner gekommen. Und erst am Morgen wieder gegangen. Der habe gerochen.

 

Stell dir vor, dieser Mann, dein Nachbar, hat einfach keine Angst. Womöglich schon viel erlebt. Oder aber aus absolut behütetem Elternhaus, wer weiß. So einer, dem alle Tauben gebraten in den Mund fliegen. Der einfach keine Sorgen kennt. Aber so wirkt er nicht.

Und wieso traut er dem Leben so viel zu?!

 

Und einmal sitzt du selbst bei ihm im Wohnzimmer. Einer der anderen Gäste spielt leise Gitarre. Die Stimmung ist entspannt. Ihr redet über alles Mögliche. Und wie es so ist. Und über die Angst. Und dann sagt er:

„Ein Grab greift tiefer als die Gräber gruben,

denn ungeheuer ist der Vorsprung Tod.

Am tiefsten greift das Grab, das selbst den Tod begrub,

denn ungeheuer ist der Vorsprung Leben.“

Dann ist es still im Raum.

 

Er schiebt nur noch leise den Verfasser nach: Kurt Marti. Ein Schweizer Dichter und Theologe; und am kommenden Wochenende hätte er 100. Geburtstag.

Und du denkst: Das ist es. Was immer hier gerade passiert: Das ist es. Das ist wie eine Lösung.

Ungeheuer ist der Vorsprung Leben.

 

Stell dir vor, all die hehren Worte, die großen und unfassbaren, die werden Wirklichkeit. Und sie ziehen in dein Leben ein. Sie wohnen ab jetzt in der Etage unter dir.

Und du kannst kommen und gucken und ein bisschen mitsummen. Bis du es aufnimmst und es dein Leben wird.

 

 

Es wird anfassbar. Echt. Fleisch und Blut.

Das Wort wird Fleisch und wohnt unter uns.

Und stell dir vor, du selbst wirst jemand, der diesem Leben alles zutraut. Du wirst eine, die alles für wahr hält, was Gott spricht. Alles. Auch und gerade diesen einen letzten unfassbaren Vorsprung namens Leben. Was kann ab jetzt noch schiefgehen?

 

Es gilt das gesprochene Wort.

21.01.2021
Ulrike Greim