Die kleine Tochter

Wort zum Tage
Die kleine Tochter
04.03.2016 - 06:23
11.01.2016
Pfarrerin Marianne Ludwig

Sacht deckt er seine kleine Tochter zu, die sich müde und zufrieden in ihre Kissen kuschelt. Es gibt bei ihnen ein festes Abendritual: Nach dem Sandmännchen gibt es Abendbrot und dann macht sie sich bettfein. Mit ihren fünf Jahren kann sie das schon allein, er kommt erst dann in ihr Zimmer, wenn sie schon im Bett liegt. Bisher wurde nach der Gute-Nacht-Geschichte sofort das Licht ausgemacht. Seit neuestem hat sie noch einen zusätzlichen Wunsch. „Papa, liest Du mir noch ein Kindergebet vor?“ Sie hat in ihrer Bücherkiste ein Gebetbuch für Kinder entdeckt, das ihr jemand zur Geburt geschenkt hatte. Bis vor kurzem war es unbeachtet geblieben. Für Religion hat er sich bisher nicht besonders interessiert. Weil er seine Tochter seit langem allein großzieht, gibt es auch niemand sonst, der mit ihr das Büchlein angeschaut hätte. Höchstens die Großmutter, aber normalerweise geht Lisa zu ihr nach Hause. Neulich, an jenem entsetzlichen Tag, konnte seine Mutter GottseiDank kurzfristig einspringen. Denn nach dem Unfall stand er völlig neben sich. Sie waren zu dritt im Auto gewesen: Er, eine Kollegin und der Besitzer des Wagens. Es hatte geregnet, die Strassen waren glatt. Als der Fahrer einem anderen Wagen ausweichen wollte, nahm das Unheil seinen Lauf. Er erinnert sich an die Stille danach. Ihm selbst war nichts geschehen, aber die beiden anderen waren verletzt. Wie schwer, konnte er nicht sagen. Er hatte nur einen Gedanken: Raus aus dem Wagen! Mühsam befreite er seine Kollegin aus dem Sicherheitsgurt und zog sie aus dem Auto. Als er dann die Fahrertür öffnete, sah er sofort, dass seine Hilfe zu spät kam. Die Polizei kam, dann Krankenwagen und Feuerwehr. Befand er sich in einem Film, einem Alptraum? Nur eine Frage bohrte sich durch den Gedankennebel: Hätte er dem Fahrer nicht doch helfen können? Wenn er sich nicht zuerst um seine Kollegin, sondern um ihn gekümmert hätte?

Als er abends seine kleine Tochter abholte, tat er so, als wäre alles in Ordnung. Seine Mutter hatte Lisa nichts gesagt und die Kleine spielte völlig unbekümmert. Darum schwieg er und schweigt auch später, als sich herausstellt, dass der Fahrer sofort tot gewesen sein muss. Seine Tochter soll so unbeschwert wie möglich aufwachsen. Er tut schon sein Bestes, um die Mutter zu ersetzen, sein schreckliches Erlebnis soll nicht auch noch auf ihr lasten.

Und dann bringt ihm seine Tochter auf einmal dieses Büchlein: „Papa, was ist das?“ Er stottert etwas von Geschenk zur Geburt, von Gebeten und Gott. Und dass Menschen beten, weil sie glauben, dass Gott sie hört. Vor allem, wenn sie in Not sind. Seither muss er jeden Abend ein Gebet vorlesen, gleich nach der Gute-Nacht-Geschichte. Seine Tochter besteht darauf.

11.01.2016
Pfarrerin Marianne Ludwig