Die Schrift an der Wand

Wort zum Tage
Die Schrift an der Wand
13.11.2015 - 06:23
25.06.2015
Militärdekan Dirck Ackermann

Am kommenden Sonntag ist Volkstrauertag. Viele werden der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedenken, 70 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs. Ich gehe auf Spurensuche dort, wo ich wohne: in Berlin-Steglitz.

 

Mein Weg führt mich über den alten Dorffriedhof bei der Matthäuskirche. Hier wurde einst die Steglitzer Prominenz begraben. Nun ist es ein Kriegsgräberfeld. Ich gehe vorbei an Gräbern aus den Endtagen des Krieges in Berlin. Die Sterbedaten zeigen das: 27. April 1945, 07. Mai. Sie zeugen von dem verzweifelten Kampf um Berlin in jenen Tagen. Hier war eine der letzten Hauptkampflinien: Grunewaldstraße – Rathaus Steglitz.

Ich blicke auf die Geburtsdaten. Junge Menschen liegen neben alten Männern. Volksturm, das letzte Kontingent. Menschen werden in den Kampf geschickt, viel zu jung oder viel zu alt. Wie erbarmungslos!

Ich gehe weiter auf den Vorplatz der Matthäuskirche: Ruhe und Vogelgezwitscher.

Doch mitten in dieser Idylle kleine Zeugnisse des Schreckens. Ich stehe vor dem Kircheneingang: Einschusslöcher, abgesplitterte Ziegel – von Gewehrsalven oder Granatsplittern?

Versunken in Gedanken gehe ich durch die offene Kirchentür: mein Blick fällt auf die Fenster über dem Altar: Totenköpfe, Feuer und Zerstörung. Bilder vom Bombenhagel und von den Sturmangriffen. Apokalyptische Bilder. Damals haben die Menschen nahe der Kirche diese Schrecken am eigenen Leib erlebt.

Meine Augen gewöhnen sich an das Dunkel in der Kirche. Unterhalb der dramatischen Fensterbilder erkenne ich nun eine schwarze Schieferwand. Sie wirkt wie ein überdimensionaler Grabstein, tiefdunkel, beklemmend, erdrückend.

Wenn da nicht auch diese helle Schrift wäre. In schmalen, feinen Zügen lese ich: Kyrie eleison. Herr, erbarme dich.

Spurensuche dort, wo ich zuhause bin. Ich erahne die Erbarmungslosigkeit des Krieges, seine apokalyptischen Ausmaße. Doch ich entdecke einen Fingerzeig zu einem anderen Leben und Zusammenleben unter den Menschen. Herr, erbarme dich! Unbarmherzigkeit führt ins Verderben, Barmherzigkeit schafft Leben. Die Zerstörung soll nicht das letzte Wort haben.

Das haben die Menschen begriffen, damals nach dem Weltkrieg in dieser Kirche in unmittelbarer Nähe zu einer Hauptkampflinie. Sie haben in das tiefe Dunkel zarte, helle Buchstaben eingezeichnet: Kyrie eleison. Daran will ich mich halten an diesem Volkstrauertag siebzig Jahre nach Kriegsende.

25.06.2015
Militärdekan Dirck Ackermann