Die Tugend der Bescheidenheit

Wort zum Tage
Die Tugend der Bescheidenheit
07.05.2019 - 06:20
28.02.2019
Autor des Textes: Diederich Lüken
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Bescheidenheit ist eine Zier – doch weiter kommt man ohne ihr! Dieser flapsige Spruch zeigt die Doppelgesichtigkeit dieser Tugend. Einerseits will man nicht als unbescheiden gelten; andererseits haftet der Bescheidenheit der Ruch des Kleinbürgers an, der genügsam das verzehrt, was sein kleines Leben ihm einbringt. „Genieße was dir Gott beschieden, entbehre gern was du nicht hast“ dichtet Christian Fürchtegott Gellert, und Eduard Mörike fügt betend hinzu: „Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden mich nicht überschütten! Doch in der Mitten liegt holdes Bescheiden.“ Wenn jemand hoch hinauswill, kann er eine solche Tugend der Mittelmäßigkeit nicht gebrauchen. Doch ist Bescheidenheit wirklich nur die Tugend der Mittelmäßigen? Nun gibt es tatsächlich Menschen, die sich bescheiden geben, es aber nicht sind, weil ihnen einfach zu einem weniger bescheidenen Lebensstil die Mittel fehlen. Ihre Genügsamkeit ist keine freie Wahl, sondern schlicht eine Notwendigkeit. Bescheiden ist nur jemand, der auch anders kann. Bescheiden ist ein Vater, der sein Kind den Wettlauf knapp gewinnen lässt, obwohl er natürlich viel schneller laufen könnte. Bescheiden ist der Reiche, der mit seinen Freunden in die Eckkneipe geht und wie sie sein Bier bezahlt, obwohl er „Champagner für alle“ ordern könnte. Bescheiden ist, wer auf die Demonstration seiner Stärke verzichtet um der Freundschaft und um der Menschenliebe willen. So gesehen ist Bescheidenheit keineswegs die Tugend der Unvermögenden. Nein, Bescheidenheit ist, wie der Journalist und Schriftsteller Alexander von Schönburg darstellt, um der Mitmenschlichkeit willen gezügelte Stärke. Andererseits leidet jemand, der mit seinen Gaben oder mit seinem Reichtum protzt, an mangelndem Selbstwertgefühl. Er muss, um es zu stärken, sich selbst in den Vordergrund spielen. Von der Unbescheidenheit spricht auch Jesus Christus, wenn er eine bestimmte Art von Pharisäern geißelt. Manche agierten sozusagen als religiöse Polizei, die jede auch noch so kleine Abweichung von ihren Glaubenssätzen zumindest verbal bekämpften. Von ihnen sagt Jesus: „Alle ihre Werke tun sie, damit sie von den Leuten gesehen werden (…). Sie sitzen gern obenan bei Tisch (…) und haben es gern, dass sie auf dem Markt gegrüßt (…) werden“ (Matthäus 23, 5f.). Das überzeitliche Bild unangenehmer Zeitgenossen. Das Gegenbild dazu ist eine Gemeinschaft, in der jeder sich seines Wertes bewusst ist und damit gesehen wird und sich keiner aufblasen muss, um Anerkennung zu gewinnen. Denn, so sagt Jesus, „wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht“ (Matthäus 23,12). Und das nicht irgendwann später; sondern direkt, einfach, indem er es tut.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

28.02.2019
Autor des Textes: Diederich Lüken