Einatmen

Wort zum Tage
Einatmen
12.07.2021 - 06:20
02.07.2021
Eberhard Hadem
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Mehrmals schon war ich als junger Student mit meinem blauen VW-Käfer auf der Autobahn an dem großen Tafelberg vorbeigefahren, der sich zu meiner Rechten in den Himmel erhob. Ich war neugierig und irgendwann bin ich abgebogen. Oben angekommen, sehe ich umgeben von fränkischen Weinbergen einige Gebäude, ein altes Schloss und eine Kirche. Die Orgel spielt und ich erlebe – zum ersten Mal ganz bewusst – einen lutherischen Gottesdienst mit viel Gesang. 
Die Schwestern des evangelischen Ordens ‚Communität Casteller Ring‘, die hier am Schwanberg leben, beten und arbeiten, feiern zu verschiedenen Tagzeiten ihre Gottesdienste. Und das vor allem singend, was ich damals so noch nicht kannte. Hier in der Michaelskirche auf dem Schwanberg ist auf einmal meine Stimme gefragt, mit der ich Teil des Gottesdienstes werde. Die Gregorianik packt mich in einem einzigen Moment. Ich verliebe mich in die gesungenen Psalmen, die in einem seltsam schwebenden Ton gesungen werden. 
Und ich entdecke dabei eine Besonderheit. Die Schwanberger Schwestern singen am Ende einer Zeile nicht einfach weiter, in die nächste Zeile hinein, sondern halten einen Moment inne, als ob sie den Atem anhalten würden. Erst später erfahre ich, dass sie genau das Gegenteil tun: Sie machen eine Pause fürs Einatmen – und wenn sie die Luft wieder ausatmen, bilden sie mit dem Luftstrom die nächsten gesungenen Worte. So verbinden sich Buchstaben und Worte mit dem Ton ihrer Singstimme. Gesang und Sängerin, die Beterin und ihr Körper als Instrument werden eins. 
Bis dahin waren die Sätze der Psalmen für mich nur Mitteilungen über die Gefühls- und Gedankenwelt jener gewesen, die sie aufgeschrieben haben. Nun ändert sich das. Beim bewussten Einhalten der Pause komme ich zwar ins Stocken, weil ich gekünstelt meinen Atem steuern will. Bis ich die Augen schließe und mich ganz dem Singen überlasse, auf einmal ist es ganz einfach. Das geht nun auch mit Maske, die mir noch mehr bewusstmacht, wie wesentlich Aus- und Einatmen sind. 
Die Worte der Bibel beginnen in mir zu atmen: Gott, der HERR, der dem Volk auf Erden den Atem gibt und Lebenshauch denen, die auf ihr gehen (Jes. 42,5). Lebenskraft, nur ein feiner Hauch, aber er macht mich lebendig bis in die letzte Zelle meines Körpers. Ich stehe morgens am offenen Fenster, atme ein und aus: Lobe den Herrn, meine Seele. Damit beginnt dieser Tag und diese Arbeitswoche.

Es gilt das gesprochene Wort.

02.07.2021
Eberhard Hadem