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Sendung zum Nachlesen
Der Baum vor meinem Fenster, mit Schnee bedeckt, zeigt mir deutlich: Noch immer ist Winter. Der Herbst hat das sanfte Rauschen der Blätter schon längst weggeblasen. Seitdem steht er da, der Baum, in winterlicher Kälte. Äste und Zweige zeigen sich bloß und nackt, sie sind Regen und Wind schutzlos ausgeliefert.
Doch jetzt erkenne ich etwas vom Wesen dieses Baumes, das ich vorher nicht gesehen habe – erst recht, wenn ich nah genug rangehe. Ich sehe die Rinde, wie sie ihre Furchen den Baum hinauf- und herabzieht. Ich sehe Stellen, wo der Baum verletzt wurde, vielleicht ein Unfall, wo etwas Hartes mit viel Wucht auf Holz getroffen ist.
Ich erkenne Kerben, die ein Messer hinterlassen hat. Aber auch, wo ein Sturm einen großen Ast abgerissen hat. Die Baumrinde hat die Wunde eingeschlossen, überwölbt, zum Schutz. Die Wunde ist nicht verschwunden, sondern immer noch da. Die Narbe, die Erinnerung, bleibt.
Als Kind und Jugendlicher bin ich in einer Gegend mit großen Waldgebieten und einer Menge an Bäumen aufgewachsen. Bäume sind mir immer schon in vielem zu einem Gleichnis geworden, haben mich angeregt, mich selbst anzuschauen.
Wie es jetzt der Baum vorm Fenster tut in seinem Winter. Im Winter meiner Seele. So ein Winter legt frei, was ich in mir trage, was ich auch bin, etwas von meinem Wesen also. Ich sehe deutlicher, wo etwas abgebrochen ist in meinem Leben oder auch mal mit großer Wucht abgeschlagen wurde.
Schmerzhafte Einschnitte haben Narben und Kerben hinterlassen. Das anzuschauen, ist zu Beginn alles andere als angenehm. Es weckt Erinnerungen, die aufs Neue wehtun. Dennoch kann ich im Winter meiner Seele mich selbst klarer sehen. Mich mit Dingen auseinandersetzen. Annehmen, was ist. Wo habe ich mich verrannt? Wie habe ich in der Vergangenheit neue Anfänge gefunden?
Ich habe es oft beobachtet und mich daran gefreut: Selbst halb zerstörte und abgerissene Zweige oder Baumreste können Blüten treiben. Auch zwei Monate nach Weihnachten bleibt die Botschaft des Liedes in Kraft: Es ist ein Ros entsprungen, von einer Wurzel zart…und hat ein Blümlein bracht, mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht.
Der Baum beginnt seine Arbeit mitten im kalten Winter, wenn es noch wie halbe Nacht um mich herum aussieht oder gar in meiner Seele. Um dann wieder zu blühen, wenn seine andere Zeit kommen wird. Und meine andere Zeit mit ihm.
Es gilt das gesprochene Wort.