Ich sehe Dich

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Marina Vitale

Ich sehe Dich
Pfarrerin Marianne Ludwig
08.04.2022 - 06:20
11.01.2022
Marianne Ludwig
Sendung zum Nachhören
Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 
Sendung zum Nachlesen

Etwas sehen und etwas erkennen ist zweierlei. Manchmal aber geschieht beides zur selben Zeit. Dann haben sich Auge und Herz zugleich geöffnet.

Jemanden zu sehen hat deshalb in der Bibel oft eine besondere Bedeutung. „Kommt und seht“ (Johannes 1, 39), mit diesen Worten lädt Jesus seine ersten Jünger ein, die Spuren Gottes in ihrer Welt zu entdecken. Und wer einen anderen Menschen in den Blick nimmt, kann mitfühlen und entdeckt vielleicht sogar etwas von sich selbst.

 

Samstagfrüh in einem Ankunftszentrum für Flüchtlinge. Es ist Anfang März und die Nächte sind bitter kalt. Trotzdem stehen seit etwa drei Uhr Menschen draußen in der Schlange an, um sich registrieren zu lassen.  Die Zugangswege sind abgegittert, man möchte ein Chaos und Gerangel in der Reihenfolge vermeiden. Als die Beamten um halb acht Uhr zum Dienst erscheinen, klettert eine junge Ukrainerin mit ihrem vierjährigen Kind durch das Absperrgitter. Mit Gesten versucht sie sich verständlich zu machen: Ihrem Kind ist kalt, sie möchte ihm noch einen Pullover anziehen. Dabei hält sie ihren Arm hoch mit dem Coronabändchen. Der Schnelltest ist also negativ. Ob sie entgegen den Regeln das Gebäude betreten darf mit ihrem Kind? Die Beamten sehen, wie beide zittern vor Kälte und schon blaugefroren sind. Nun geht  es ganz schnell. Alle helfen mit: Einer bringt eine Wärmedecke vom DRK, ein anderer heißes Wasser, ein dritter holt das Gepäck, das in der Menschenschlange zurückgeblieben ist. Sie führen Mutter und Kind ins Gebäude, setzen sie an die Heizung. Das Kind beginnt zu weinen; die plötzliche Wärme tut an den Händen und Füßen weh. Und doch hört es nicht auf, den Beamten an seiner Seite anzuschauen. Beide halten den Blickkontakt, der Beamte lächelt ihm zu. Irgendwann hört das Weinen auf und das Kind lächelt zurück. Ein magischer Augenblick.

 

Keiner bringt es übers Herz, Mutter und Kind zurück in die Schlange zu schicken. Sie werden in den Warteraum geführt. Als die Registrierung beendet ist, kehrt die Mutter noch einmal zurück. Sie holt aus einer der Taschen ein Stück Schokolade und hält sie den Beamten entgegen: „Danke!“  Dann verlassen beide das Zentrum. Die Frühlingssonne wärmt und der erste Schritt im unbekannten Land ist getan.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

11.01.2022
Marianne Ludwig