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Du, Gott, stellst unsere Füße auf weiten Raum! (Ps 31, 9)
Über eine verantwortbare Mobilität nachzudenken – das geht über die Frage nach sinnvollen Pandemiebeschränkungen hinaus.
Denn: Mobilität war immer schon. Sie war schon vor der Sesshaftigkeit des Menschen, und mit der Sesshaftwerdung ist sie nicht verschwunden. Aus Ackerbau und Viehzucht wurde Industrie, längst ist der globale Handel zu Wasser, zu Lande und in der Luft unterwegs. Mit Gütern und ohne: Der Mensch ist unterwegs. Allerdings, biblisch gesehen, kam die Mobilität: nach dem Garten Eden. Und zusammen mit der Erkenntnis, was denn richtig und falsch ist.
Mobilität. Von A nach B. Von der Arbeit in den Urlaub. Vom Heim zu Freunden und Verwandten. Ja, von Ägypten in das gelobte Land. Aus Zwängen heraus: in die individuelle Freiheit.
Du, Gott, stellst unsere Füße auf weiten Raum!
Nach wie vor heißt Mobilität heute für die allermeisten Menschen: Auto.
„Der Straßenverkehr ist noch vor dem Schienen-, Schiffs- und Luftverkehr eins der wichtigsten Entfaltungsmittel menschlichen Lebens. Er steigert die Beweglichkeit im Beruf und in der Freizeit, schafft Arbeit und Einkommen für Millionen, hilft Räume zu überwinden und Kontakte zu knüpfen […] Er ist Voraussetzung und Ausdruck menschlicher Freizügigkeit“ (1)
Ein deutliches Bekenntnis, gemeinsam herausgegeben von der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Katholischen Bischofskonferenz. Aus dem Jahr 1987. Und schon damals, immerhin, eingeschränkt durch den Hinweis auf die Gefährdung der Mitmenschen und der Umwelt.
Ein Grundrecht auf Mobilität, auch wenn es so klingt und auf den Straßen längst danach aussieht, gibt es nicht, jedenfalls nicht so einfach. Obwohl ein solches gefordert wurde. 1992 zum Beispiel, von Staatsrechtler Prof. Michael Ronellenfitsch. Skurril, dass seine Begründung sich auch auf das Grundgesetz Art. 4 von der Religionsfreiheit berief, ‚da doch die Missionare auch unterwegs sein müssten‘ (2). Gleichwohl bezeichnend – denn der Mythos Auto hat mit Religion sehr wohl zu tun… Es gibt Verkehrssünder, Verkehrsopfer. Und manch ein Auto zierte der Aufkleber ‚Bis der TÜV uns scheidet‘. Es geht also um Leben und Sterben, um das Grundverhältnis zu den Mitmenschen, zu Natur und Technik, um Recht und Sitte, richtig und falsch. Und was der Mensch davon zu verantworten bereit ist: vor sich, der Welt und vor Gott.
Was es gibt als Grundrecht ist aber der Schutz des Lebens, das Recht auf körperliche Unversehrtheit (GG Art. 2). – „Du sollst nicht töten!“, heißt es in den biblischen zehn Geboten. Beides geht weit über die Frage hinaus, wie viele Verkehrstote die Gesellschaft blutig opfert auf dem Altar der automobilen Mobilität.
„Gebaut, um den Atem zu rauben“ – damit warb BMW für die 8er Reihe 2018 (3). Wohl eher ungewollt ein Hinweis auf die Gefährdung durch die Emissionen des Straßenverkehrs.
Fragen, mit denen sich Beate Corbach beschäftigt. Sie ist Klimaschutzmanagerin im Umweltbüro der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz:
„…weil das Thema Umweltarbeit Klimaschutz sehr eng mit diesem für mich urchristlichen Thema der Schöpfungsbewahrung verbunden ist. Also ganz vorne in der Bibel findet man die beiden Schöpfungsgeschichten und den großen Auftrag an die Menschen, an uns Christen von Gott, die Erde zu bebauen und zu bewahren… und darum kann man sich in vielerlei Kontexten kümmern, die Erde zu bebauen und zu bewahren. Das aber jetzt ganz direkt unter dem Dach der Kirche, mit dem Auftrag der Kirche, in einer Anstellung der Kirche auch innerkirchlich zu wirken, dieses Thema stärker zu machen, fand ich eine tolle Herausforderung.“
Klimaschutz und Verkehrssicherheit – beide Themen gehören auf die andere Seite der Medaille, mit der wir Deutschen uns so gerne schmücken. Sie putzen und wienern – um sie dann wieder, möglichst unbegrenzt, auf Geschwindigkeit zu bringen. Bis über die Grenzen des Rationalen und Beherrschbaren hinaus. Das Auto. Des Deutschen liebstes Kind. Und Kultobjekt einer Religion der Geschwindigkeit. ‚Freie Fahrt für freie Bürger‘… Aus den Wahlprogrammen ist der Slogan verschwunden, aus den Köpfen noch nicht.
„Wir erklären, dass die Herrlichkeit der Welt sich um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, welche Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Automobil, das auf Gewehrgeschossen zu laufen scheint… Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer in der Hand hält, dessen Lenkachse mitten durch die Erde verläuft, die selbst auf ihrer Umlaufbahn dahinjagt.“ (4)
Doch die Selbstwirksamkeit des Menschen, die der Faschist und Begründer des italienischen Futurismus Filippo Tommaso Marinetti hier 1909 besingt, ist ein Trugschluss. Das Automobil ist mehr als ein Mittel zum Zweck. Das Fahrzeug nutzt der Mensch nicht als Werkzeug, sondern: von innen heraus. Vollklimatisiert, komfortgefedert, geräuschgedämmt, Ambientebeleuchtung. Wie im Mutterleib fühlt der Mensch sich geborgen und unverletzlich. Sei mir ein starker Fels und eine Burg (Ps 31, 3)? Des Deutschen liebstes Kind, es wird vergöttert. Und dieser Gott soll vor allem: stark sein. Da sich die Zahl der Förster, Tierärzte, Gebirgsjäger oder Turnierreiter in der Bevölkerung nicht wesentlich erhöht hat, muss der anhaltende Trend zu großen und schweren SUVs tiefere Gründe haben. Und das Auto mehr sein als ein Mittel unter anderen für den Zweck der Mobilität.
Du, Gott, stellst meine Füße auf weiten Raum!
Von Niederquerschnittsreifen, unbegrenzten Höchstgeschwindigkeiten und Maximalleistungen weiß dieser biblische Psalm nichts. Statt wie von Sinnen mit allen Sinnen unterwegs zu sein, das kann trotzdem schön sein. Eine Erfahrung, die sich die kirchliche Klimaschutzmanagerin gerade mit vielen Menschen teilt:
„Ich fände es sehr schade. Und ich glaube, das entspricht dem Menschen auch nicht, wenn er jetzt diesen Spaßfaktor oder dieses Genießen an der Mobilität, wenn er darauf komplett verzichten müsste. Aber ich finde, dass wir Menschen und wir Christinnen vielleicht auch mal besonders den Auftrag haben, damit verantwortungsbewusst umzugehen.
Ich glaube, dass viele jetzt gerade auch in dieser Coronazeit die Erfahrung gemacht haben, dass es anders geht und dass es gar nicht nur ein schmerzhafter Verzicht ist, sondern dass dieses Bewegen in den naheliegenden Räumen - was Berlin-Brandenburg betrifft: die Brandenburger ländlichen Räume, dass das ein sehr lohnendes Reiseziel sein kann. Und es ist erstaunlich, dass man auch merkt, wie genussvoll diese Entschleunigung, dieses langsamere Reisen sein kann. Also, es ist ein anderer Genuss. Ich glaube nicht, dass der einzige Genuss ist, schnell zu fahren, zu Rasen…“
Alle 9 Stunden stirbt ein Mensch bei einem Geschwindigkeitsunfall - die Hauptursache für die 3046 Verkehrstoten, die es im letzten Jahr auf deutschen Straßen gegeben hat (5). Mit Verkehrsopfern hat Kirche schon immer zu tun, spätestens dann, wenn Notfallseelsorger Verletzte und Betroffene begleiten. Oder Pfarrerinnen am Grab den Angehörigen gegenüberstehen und ihnen die klassische Beerdigungsformel nicht so recht über die Lippen kommen will – nämlich, dass es dem allmächtigen Gott gefallen habe, unseren Bruder/ unsere Schwester aus diesem Leben abzuberufen‘…
Mit 37 Verkehrstoten je 1 Million Einwohnerinnen und Einwohnern liegt Deutschland im europäischen Vergleich im unteren Mittelfeld. Mit 22 Menschen gibt es in Schweden und in der Schweiz die wenigsten Verkehrstoten (6):
Das liegt, auch, am 5. Gebot: „Du sollst nicht töten!“ – vor zwanzig Jahren ließ dem damaligen Schweizer Verkehrsminister das biblische Gebot keine Ruhe (7). Sein Amt hat Moritz Leuenberger auch als ethischen Auftrag verstanden – nämlich: Wie kann ich als Verkehrsminister Todesfälle verhindern? „Via sicura“, sichere Straße, hieß das Ziel, das zehn Jahre seiner Arbeit bestimmt hat. Sein Konzept bestand aus Dutzenden Einzelmaßnahmen, darunter: drastische Strafen für Raser. Der christsoziale deutsche Bundesverkehrsminister tut sich damit noch heute schwer. In der Schweiz ist längst aus dem Kavaliersdelikt von einst eine gesellschaftlich geächtete Straftat geworden, mit Folgen bis hin zur Haftstrafe. Die deutsche Debatte über die Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen verfolgt der Schweizer Leuenberger mit Kopfschütteln.
Der deutsche Verkehrsminister führt gegen ein Tempolimit den „Menschenverstand“ an. Die kirchliche Klimaschutzmanagerin Beate Corbach erinnert lieber an Fakten:
„...man muss sich auch bewusst machen, dass jede Art von Geschwindigkeit, je schneller sozusagen, zumindest, wenn es ein motorisierter Antrieb ist, eine ganz exponentiell ansteigende Kurve an Schadstoffausstößen verursacht.
Auf den Landstraßen muss man nicht Hundert fahren, man kann sogar 80 fahren: in der Dämmerung, in der Dunkelheit ist es sowieso auch sinnvoller, im ländlichen Raum sowieso mit dem Wild auf den Straßen. In den Städten ist es sinnvoller, tatsächlich auch freiwillig eine 30 km/h Geschwindigkeit einzuhalten, wo es immer möglich ist, um dem Stadtverkehr etwas Gutes zu tun. Und auch auf den Autobahnen natürlich. Man kann sich also sehr begrenzen, und das ist auch ein Thema in unserer Leitlinie: dass wir auf dieses Tempolimit aufmerksam machen.“
Was eine Begrenzung auf Tempo 130 auf Autobahnen für das Klima bringt, hat das Umweltbundesamt ausgerechnet: das spart knapp 2 Millionen Tonnen CO2, das sind 1,2% aller Emissionen im Straßenverkehr (2018). Tempo 100 würde bereits 5,5 Millionen Tonnen CO2 einsparen – so viel, wie die in den Klimagesetzen vorgesehene Stärkung des Schienengüterverkehrs und der Binnenschifffahrt. Das aber kostet Milliarden und dauert bis 2030 (8).
Deutschland ist das einzige Industrieland, das kein generelles Tempolimit hat. Rund 70% der Autobahnen sind unbegrenzt (9). Noch – denn inzwischen setzt sich auch der Deutsche Verkehrssicherheitsrat für ein generelles Tempolimit von 130 km/h ein (10). Das hat großes politisches Gewicht, denn jede Organisation, die mit dem Thema Verkehrssicherheit zu tun hat, ist dort Mitglied, vom ADAC bis zum Verband der Automobilindustrie. Positiver Nebeneffekt eines Tempolimits – es gibt weniger Stau und weniger Stress auf den Autobahnen. Die vorhandenen Straßen werden besser ausgenutzt, die aggressive Lichthupe bei raumgreifendem Überholen mit hoher Geschwindigkeit fällt weg.
Dass Bleifüße keinen unsolidarisch tiefen ökologischen Fußabdruck mehr hinterlassen sollen, ist gut, aber nicht genug, findet die Klimaschutzmanagerin Beate Corbach:
„Das Tempolimit ist eine Notwendigkeit im Verkehr - auch übrigens dann weiterzudenken, wenn ich fahren muss, wenn ich mich an ein Tempolimit halte, auch dann verursache ich noch CO2 und dann als Kirchgemeinde oder vielleicht sogar auch institutionell, aber auch im privaten Rahmen darüber nachzudenken, diese angefallenen CO2 Emissionen zu kompensieren. Es gibt ja sehr gute CO2 Kompensationsprogramme. Im kirchlichen Rahmen ist es die Klimakollekte, die nutzen wir für unsere Arbeit auch und kompensieren sozusagen die angefallenen CO2 Werte.“
‚Wer bremst, verliert!‘ Es ist Zeit, dass dieser Aufkleber vom Autoheck verschwindet. Aber in der Bewegung hin zu einer klima- und menschenfreundlichen Mobilität gehört er ganz nach vorn. Nicht nachlassen, weitermachen - und weiter gehen.
„Also ich habe eine unglaubliche Hoffnung, diese jungen Leute, ich finde die unglaublich faszinierend. Also einerseits jetzt klar, es sind auch nur Teile dieser jungen Generation, aber die Fridays for Future-Bewegung ist wirklich unglaublich. Wie jung sind die und was haben die in Gang gesetzt? Das waren sonst so Studentenbewegungen, die sowas geschafft haben. Jetzt sind es 14-, 15-, 16-Jährige...
Du, Gott, stellst meine Füße auf weiten Raum!
In dem biblischen Psalm bittet ein Mensch Gott um Hilfe. Es ist eng geworden für den Menschen, doch im Vertrauen auf Gott kann er die Perspektive wechseln. Er sieht neue Lebensmöglichkeiten für sich und aus bedrohlicher Enge wird ein weiter Raum. Frei, sich zu bewegen und ihn zu gestalten.
Es gilt das gesprochene Wort.
Literatur dieser Sendung:
(1) „Dem Leben zuliebe“. Broschüre zum Straßenverkehr, gemeinsam herausgegeben vom Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz, 1987. Zitiert nach Jörns, S. 14
(2) Uwe Wesel „Über die Verfassungswidrigkeit unserer Autos“, in: Die ZEIT Nr. 20 vom 14. Mai 1993
(4) „Erstes Futurisches Manifest“ von Filippo Tommaso Marinetti von 1909, zitiert nach Jörns, S. 85
(7) https://www.livenet.ch/magazin/gesellschaft/ethik/341322-du_sollst_nicht_toeten_wenn_ein_politiker_die_bibel_beim_wort_nimmt.html
und
https://magazin.spiegel.de/SP/2019/7/162286324/index.html
(9) https://www.vcd.org/themen/verkehrssicherheit/tempolimit-auf-autobahnen
Musik dieser Sendung:
- Cityambience, Jones McAllister, Sound Warp: Trailer FX (EPA 11)
- Wheelerwhoosh, Jones McAllister, Sound Warp: Trailer FX (EPA 11)
- Wheelerwhoosh, Jones McAllister, Sound Warp: Trailer FX (EPA 11)
- Hear Alarm, Sylvain Poge, Fabien Carouge, Tension Pulses (ACL 33)
- Wheelerwhoosh, Jones McAllister, Sound Warp: Trailer FX (EPA 11)
- Autobahn, Jimmy Spectre, Commercials Non Stop 20 Contemporary Styles (CNS 20)