Wort zum Tage
epd-bild/Rolf Zoellner/Rolf Zoellner
Erzählen ist ein Geschenk
Pfarrerin Marianne Ludwig
09.04.2022 06:20
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In diesen Tagen wachsen Menschen über sich selbst hinaus. Mich bewegt, was mir eine junge Frau erzählt hat aus ihrem Dienst als freiwillige Helferin am Berliner Hauptbahnhof:

„Jetzt bin ich stolz auf mich und ich weiß: Meine Familie ist es auch. Ich hätte nie von mir gedacht, dass ich das könnte: Menschen weiterhelfen, die alles verloren haben und manchmal nicht mal wissen, in welcher Stadt sie jetzt sind.

 

Seit Ende Februar bin ich ein- oder zweimal in der Woche hier. Man kann sich nicht vorstellen, wie viele Menschen mit den Zügen ankommen. Aber wir sind auch viele Helfer und wir unterstützen uns gegenseitig. Wir achten aufeinander, dass man genug zu trinken hat zum Beispiel. Und manchmal drängen wir uns auch gegenseitig, endlich nach Hause zu gehen. Ich kümmere mich um das, was Menschen direkt nach ihrer Ankunft brauchen. Zum Beispiel um Tickets für die Weiterfahrt, um SIM-Karten; oder ich helfe, auf dem Handy das freie Wifi einzurichten. Wenn das geschafft ist, sehe ich schon, wie tausend Nachrichten aufploppen. Nach ihrer Ankunft ist das den Menschen am wichtigsten: die Familie zu beruhigen, dass sie angekommen sind.

 

Ich staune, wie freundlich sie sind. Diese Menschen haben alles verloren und doch höre ich so oft ein „Danke“, sogar auf Deutsch. Nachrichten schaue ich nur einmal am Tag. Ich will nicht darüber nachdenken, was noch kommen könnte. Ich versuche, mich ganz auf den Augenblick zu konzentrieren und die kleinen Dinge zu genießen: Zum Beispiel das Frühlingswetter; dass mich meine Kollegen im Büro morgens mit guter Laune begrüßen; oder dass ich mit meiner Tochter etwas Schönes mache.

 

Man bekommt beim Helfen so viel zurück: Dankbarkeit und Erleichterung. Gestern haben wir einer jungen Mutter einen Kinderwagen besorgt, weil sie ihr kleines Kind immer tragen musste. So hat sie jetzt auch mal die Hände frei. Ich bin ein- bis zweimal in der Woche am Bahnhof. Gern würde ich öfter hinfahren, aber ich muss auch für mich selbst sorgen. Gut, dass ich weiß: Jeder und jede, die hier Schutz sucht vor diesem Krieg, erhält eine Unterkunft. Niemand landet auf der Straße. Aber darum kümmern sich andere. So fällt es mir leichter, mich von den Menschen zu verabschieden. Obwohl ich keinen von denen vergessen werde, die ich am Bahnhof begleitet habe.“

Es gilt das gesprochene Wort.