Gemeinfrei via unsplash / Ahmad Odeh
„Ich bin viel mehr als Suizid."
Rikes Kampf gegen die Dunkelheit: ein Nachruf
13.11.2022 07:35

 

Friederike K.
Geboren im Januar 1972.
Gestorben im September 2021.

 

Der folgende Inhalt kann sehr nahe gehen. Es geht um Depression und Suizid. Bitte entscheiden Sie, ob Sie zuhören und sich dem aussetzen wollen. Es gibt bei Suizidgefährdung eine Vielzahl verschiedener Hilfsangebote. Suizid ist kein unvermeidbarer Tod. Suchen Sie das Gespräch, zum Beispiel mit der Telefonseelsorge, bundesweit und jederzeit unter der Telefonnummer 0800 1110111.

 

Möge ich erfüllt sein von liebevoller Güte.
Möge ich mich geborgen und beschützt fühlen.
Möge ich gesund sein und frei von Angst.
Möge ich mit Leichtigkeit durchs Leben gehen.

Ein Gebet über Rikes Nachtschrank. Frei von Angst – das wünscht sie sich, frei zu sein von diesen quälenden Bildern, die sie verfolgen. Ihrer Familie schreibt sie:
 „Ich lebe seit März mit Zwangsgedanken, mir was anzutun. Sie verfolgen mich im Schlaf, am Tag, bei Aktivitäten in der Klinik. Die Bilder sind unerträglich und reine Folter. Tag und Nacht. Ich kann nicht lesen, keine Filme gucken, nur selten das Denken rund um Suizid abstellen. Ich sehe die schrecklichsten Szenen vor mir –– Ich hänge am Baum, ich springe vor den Zug, ich übergieße mich mit Benzin und zünde mich an – ich sehe wie mein Mann und die Kinder die Nachricht bekommen und nie wieder lachen können und deswegen tue ich es nicht. Ich kann es nicht tun."

Rike wird es tun. Ein halbes Jahr später sucht sie den Tod, um all den Bildern zu entfliehen, die sie in ihren Bann ziehen und denen sie nicht entkommen kann.
 „Ich traue mich gar nicht das aufzuschreiben, weil es so traurig und erschütternd ist. Ich werde niemals Ruhe finden und ich weiß, ich werde es nicht tun, was die Bilder mir aufzwingen wollen, weil ich das [euch] einfach nicht antun kann. Ich kämpfe seit März - jeden Tag - jede Stunde, jede Minute zu überleben, auch nachts verfolgen mich Träume rund um Selbstmord. Es ist einfach nicht zu ertragen. Es ist Folter. Es ist wie schon tot sein. Seelisch tot."

Rike erlernt Techniken, STOPP zu sagen – NEIN zu sagen, sich abzulenken, ihren Gedanken Form zu geben, aber das funktioniert nicht. Sie kämpft, sie kämpft für ihre Kinder, für ihren Mann, für die Eltern und die Geschwister. Der einzige Ausweg, der sich ihr aufdrängt, den kann, den darf sie nicht gehen. Das darf sie ihren Lieben nicht zumuten. Die Liebe verbietet es ihr, den dunklen Mächten zu folgen, die auf sie einhämmern, doch endlich Schluss zu machen.
 „Ich werde weiter kämpfen, bis ich wieder lachen kann und diese furchtbare Krise überwunden habe. Ich kämpfe und kämpfe. Ich sage den Gedanken - ihr seid die Krankheit - ihr seid nicht ich. Ich bin viel mehr als Suizid. Ich bin Rike - in all ihrem Sein.“

Rike ist mehr als diese Krise, alle wissen es. Nicht viele wissen überhaupt, dass es da auch diese andere Seite gibt, die dunkle, mit all den Selbstzweifeln und Ängsten. Wer Rike kennenlernt, trifft auf eine starke Persönlichkeit. Eine unbändige Lebenslust erfüllt sie, die sich schwer bremsen lässt. Immer ist sie auf der Suche nach dem Wahrhaftigen, im Jetzt und Hier. Meist ist sie pure Energie, stets bereit zu kontroverser Diskussion, auch zu hemmungsloser Blödelei. Nur lauwarm, unentschieden – bitte nicht! Wo Rike ist, wird leidenschaftlich gestritten oder laut gelacht. Bis tief in die Nacht vergnügt man sich, gern auch mit absurd komischen Geschichten. Mit keckem Blick und freundlich spitzen Bemerkungen ist sie dem Leben auf der Spur, sei es an der Kasse im Supermarkt oder beim Elternabend.
Ihre Präsenz füllt spielend ganze Räume, selbst wenn sie nichts sagt, sondern einfach nur anwesend ist, verströmt sie ihre Energie. Wer damit umgehen kann, wird reich beschenkt. Auch wenn sie schweigt und traurig ist: sie füllt den Raum. Rike übersieht man nicht, nicht in ihrer Präsenz und auch dann nicht, wenn sie selbst am liebsten gar nicht da wäre.

Schon als Schülerin am katholischen Gymnasium im Rheinland sucht sie regelmäßig die Auseinandersetzung, ist mutig, eckt an, fällt aber auch durch ihre kreativen, musischen Talente auf, gewinnt Preise.
Danach stürmische Jahre in den Niederlanden. Sie studiert Tanztheater-Choreografie an der Hochschule der Künste in Amsterdam. Sie will wahrhaftige Geschichten erzählen, ergänzt ihr Studium durch die Beschäftigung mit dem Dokumentarfilm. Zu ihrer Leidenschaft wird immer mehr die Lehre. Sie beginnt damit am Europäischen Theaterinstitut in Berlin.
Tagsüber unterrichtet sie Schauspielschüler, am Abend gibt sie Improvisationskurse.

Eines Tages steht Parwis auf der Matte. Eine kurze erste Begegnung, die beide nicht mehr loslässt. In den nächsten Wochen wird sich Parwis in ihr Herz spielen. Es folgen stundenlange Gespräche auf der Parkbank am Spreeufer. Seine Andersartigkeit zieht sie an. Parwis ist stiller, besonnener, ausgeglichen – Rike kraftvoll, offen und direkt. Beide wissen, dass sie sich gefunden haben. Es ist die Liebe ihres und seines Lebens. Sie brauchen nicht lange, um gemeinsame Pläne zu schmieden. Noch vor der Hochzeit wird die erste Tochter geboren. Ein Höhepunkt: die Trauung an einem See in der Märkischen Schweiz. Rike flüstert Parwis ins Ohr: "Wir müssen hier weg!". Sie will diesen intimen Moment nicht gleich mit allen teilen. Kurz darauf finden sich beide auf der Mitte des Sees wieder, auf einem wackeligen Holzfloß. Das Bild hat sich den Hochzeitsgästen eingebrannt. Aus einer Umarmung entsteht in einem atemberaubenden Balanceakt ihr Hochzeitstanz, Damit besiegeln die beiden vor den Augen der Gästeschar aus nah und fern ihre Liebe. Es folgt eine grandiose Hochzeitsfeier. Rike liegt der große Auftritt, das perfekte Arrangement, sie führt Regie und am Ende: Applaus! – für sie, für alle, für die goldene Zukunft, die vor ihnen liegt.

Als Parwis das Angebot bekommt, einen Job im Silicon Valley anzutreten, sind beide begeistert. Es folgt eine schöne, intensive Zeit. Begegnungen mit Menschen aus aller Welt, ein bunter Freundeskreis und das Eintauchen in die reiche Natur Kaliforniens. Rike ist die Kontaktfreudige, sie knüpft Verbindungen, bringt Menschen zusammen, empfängt Gäste, wann immer es geht. Die Familie – inzwischen auf zwei Töchter angewachsen – ist das Zentrum für sie. Ihr Anspruch ist, dass es den Kindern gut geht, das Haus muss schön sein, am Abend muss ein gutes, selbstgekochtes Essen auf dem Tisch stehen. An der Schule der Kinder wird sie sehr geschätzt, ist guter Geist, Elternsprecherin in beiden Klassen, stets zur Stelle, wenn Hilfe gebraucht wird.

Und doch ist da immer wieder eine Leere, das Gefühl, ihren Ansprüchen nicht gerecht werden zu können, die eigene Entwicklung zu vernachlässigen, auf der Stelle zu treten. Da sind diese negativen Stimmen im Kopf, die sie herunterziehen. Dann wieder Erfolge, erfülltes Leben. Ihr Theaterunterricht an der Deutschen Schule in Palo Alto begeistert Kinder wie Eltern nachhaltig. Eine gefeierte Videoinstallation in Münster, die sie aus dem Familienalltag heraustreten lässt. Man sieht sie, so wie sie gesehen werden will.

Aber das Künstlertum ist anstrengend für Rike, die Ungeduldige, die Impulsive. Denn Rikes Kreativität, ihr Schöpfungswille, ihr künstlerisches Talent, die sie in diesen Bereich gelockt haben, sind begleitet von hoher Sensibilität, von Selbstzweifeln und seelischen Verstimmungen. Wenn etwas nicht so läuft wie erhofft, wenn Gelder fehlen, Projekte platzen, Partner straucheln, dann kann sie das nicht wegstecken. Sie zweifelt an sich, an der Welt, an den Grundlagen ihrer Existenz. Woran mag es liegen, an ihr, an den Umständen? Sie muss etwas ändern, aber was?

Sie weiß es nicht und das macht sie unentschlossen. Vielleicht ist es der Standort. In den USA sind sie gut eingelebt, die Kinder fühlen sich wohl, es gibt gutes Geld zu verdienen, einen zuverlässigen Freundeskreis und doch fühlt sich vieles auch nach sechs Jahren noch fremd an. Etwas zieht Rike zurück ins Rheinland, die alte Heimat, wo die Eltern und die beiden Brüder leben. Oder wieder nach Berlin, wo sich Vertrautes mit Neuem gut verbinden lässt? Rike schaut sich um, beginnt einige Pflöcke einzuschlagen, blüht auf und zweifelt zugleich, ob das alles gut werden wird. Mit dem Beginn der Pandemie, den großen Bränden in Kalifornien wird ihre Haut dünner, ihr Blick suchender, ihre Nervosität größer. Sie wirkt getrieben, aber wovon eigentlich? Ihr fehlt ein Schutzpanzer, Ausblenden kann sie nicht, schlechte Nachrichten verfinstern ihr Gemüt. Sie greifen nach ihr und sie kann ihnen nichts entgegensetzen. Aus Verunsicherung wird Verzweiflung. Sie wird krank. Ein Klinikaufenthalt in den USA, ein weiterer in Deutschland in der Nähe der Familie. Sie sucht Hilfe, doch die verschiedenen Hilfsangebote erreichen sie nicht. Umgeben von vielen Helfenden ist sie allein, unendlich allein.

Ein Antidepressivum nach dem anderen haben ihr die Ärzte verschrieben, in Rikes Fall hat keines geholfen. Wenn die Medikamente nicht anschlagen, dann vielleicht Qi-gong? Sie geht spazieren, treibt Sport, meditiert, malt, häkelt, zwingt sich zum Smalltalk, doch dabei kommen ihr die dunklen Bilder nicht aus dem Kopf und machen sie wahnsinnig.

 „Ich kämpfe weiter, dass ich gesund werde. Ich kämpfe weiter. Versprochen. So einfach lass ich mich nicht unterkriegen. Ich brauche mehr Hoffnung, dass es wieder gut werden kann. Die kommt mir oft abhanden. Ich weiß, dass es unverzeihlich wäre, wenn ich mir was antue, weil es das Leiden was ich hier trage auf alle anderen überträgt und nie wieder gut zu machen wäre. Darin liegt der Grund, dass ich bisher noch am Leben bin und da auch so bleiben soll. Für mich, für Parwis, für die Kinder, für alle, die mich lieben - werde ich weiterkämpfen. Love, Rike!
Ich liebe Euch von hier bis zum Mond über alle Sterne und Planeten wieder zurück zur Erde.“

Rike hat den Kampf verloren. Was ich von Rike erzähle ist ein Nachruf. Auf einen einzelnen, wunderbaren, von Gott geliebten Menschen. Das zu tun ist mir und auch den Angehörigen wichtig. Suizid ist vermeidbar, suizidale Krisen können überwunden werden. Bei Rike war es vielleicht nur ein Augenblick, der vorübergehen würde, doch kein Engel in Sicht, diesmal. Die Dunkelheit gewinnt überhand und das Schreckliche geschieht.

So intensiv Rike in ihrer Anwesenheit war, so gegenwärtig ist sie in ihrer unfassbaren, unbegreiflichen Abwesenheit. Sie hinterlässt eine Stille, die lauter nicht sein kann. Ein schreiendes Warum?, eine hämmernde Leere.

Mit ihren Briefen wollte sie vor allem sich selbst ermutigen. Jetzt sind ihre Worte vielleicht eine Hilfe zu verstehen, welch unglaublichen Sog eine Depression entfalten kann.

Ein Urteilendes: „Wie kann man nur?“, verbietet sich. Auch jede Selbstanklage: „Man hätte doch!“. In Rikes Fall war alles Tun nicht sinnlos – aber doch, am Ende machtlos gegenüber der Dynamik und der Tragik des Augenblicks.

Beim Abschied waren es ihre Briefe und Worte, die den Trauernden einen letzten Halt geben.

„Nie wieder lachen“? – da hat Rike geirrt, es wurde gelacht, auch beim Abschied. In Erinnerung an sie, an ihre Fröhlichkeit, in Erinnerung an die vielen guten Momente mit diesem einzigartigen Menschen. Geweint wird auch, immer wieder…

Beides darf – beides muss sein.

 

Suizid ist kein unvermeidbarer Tod. Für Suizidgefährdete und deren Angehörige gibt es Hilfsangebote. Suchen Sie das Gespräch, zum Beispiel mit der Telefonseelsorge, bundesweit und jederzeit unter der Telefonnummer 0800 1110111. Per Mail und Chat unter: online.telefonseelsorge.de/

 

Es gilt das gesprochene Wort.