Die Seele Europas

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash/ Kayra Sercan

Die Seele Europas
Morgenandacht von Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
09.05.2023 - 06:35
03.03.2023
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
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Heute ist Europatag. Die Grundlage für die wirtschaftliche Zusammenarbeit und für ein Zusammenleben in Frieden und Freiheit ist an diesem Tag gelegt worden. Am 9. Mai 1950, also nur fünf Jahre nach dem vernichtenden 2. Weltkrieg, der so viel Feindschaft und Zerstörung gebracht hat.

Ich reise sehr gerne durch Europa und liebe die Städte, vor allem ihre Kathedralen. Von diesen Räumen der Stille bin ich immer wieder begeistert. Vom Licht, das sich in vielen Farben bricht. Von Säulen, die mich aufrichten, von herrlichen Gewölben, die wie feingesponnene Netze oben schweben. Sie gehören zur Seele Europas.

Manchmal verdrießt mich aber ein Kirchenbesuch. In Kirchen sind auch Jahrhunderte von Gewaltgeschichten gespeichert. Nicht nur die Kreuzesdarstellungen mit dem leidenden Christus. In vielen großen Kathedralen Europas stößt man auf judenfeindliche Bilder. In St. Sebald in Nürnberg etwa. Die herrlichsten Glasfenster sind hier im Chorraum. Jesus und seine Jüngerinnen und Jünger - brave Männer im lockigen Haar - sie sind nie als Juden und Jüdinnen dargestellt. Die Folterknechte in der Kreuzigungsszene im Tucherfenster schon. An ihrer mittelalterlichen Standestracht sind sie erkennbar. Sie tragen einen besonderen Hut. Einen sogenannten Judenhut, eine Kappe mit einem Knauf in der Mitte. Für die Menschen, die sich diese Bilder angeschaut haben, waren das Darstellungen mit Wiedererkennungswert. Denn so haben sie auch Juden in der Stadt gesehen. Und solche Propaganda hat regelmäßig zu Pogromen geführt. Insbesondere in der Karwoche, weil dann der aufgeheizte Mob sich an den Juden rächen wollte, denn die haben ja den Herrn Jesus gequält und gekreuzigt.  Solche Bilder zeigen, wie die Kirche in Europa ihre eigene Botschaft verraten hat. Und öffnen hoffentlich die Augen für antijüdische Stereotype heute!

Dann sind da die Heiligenfiguren. Gefoltert, gerädert. Pfeile durch nackte Körper. Ach, und was für weitere Scheußlichkeiten. Ja, die Erinnerung an die Passion dieser Menschen ist wichtig. Sie hilft hoffentlich, Unrecht zu erkennen, Unrecht aufzudecken und zu ahnden. Wie sähen wohl Figuren aus für missbrauchte Kinder und Jugendliche? Memoria passionis – keine Verdrängung. Der Weg von diesen alten Figuren führt manchmal unmittelbar in die Nachrichten des Tages, weil es sich bis heute eins zu eins so abspielt. Hier in Europa.

Im vergangenen Sommer aber konnte ich tief aufatmen. In einem kleinen Kirchlein in Südtirol habe ich eine Wandmalerei entdeckt, die mich seither begleitet.  Stunde um Stunde habe ich vor ihr auf einer Bank gesessen und mich nur gefreut. Sie gehört zu den ältesten Wandmalereien Europas, zu sehen in Naturns, in einer Kirche aus der Karolinger Zeit im 8. Jahrhundert.

Da sitzt ein Mann auf einer Schaukel. Die kurz geschorenen Haare fliegen ein wenig weg vom Kopf, er kuckt ganz verschmitzt nach links rüber und lächelt vergnügt. Um den Kopf schwebt ein Heiligenschein, die Knie sind fein gezeichnet mit Spiralen, aus denen sich in Falten und Streifen Hosenbeine und ein schönes Gewand entfalten. Dies ist der Heilige Prokulus. Er soll einmal Bischof in Verona gewesen sein, dann in Zwist geraten mit dem Stadtrat, von dort vertrieben und bis hierher geflohen sein. Warum ein Heiliger, weiß man nicht genau. Das Tüpfelchen auf dem I: der Prokulus hält sich gar nicht fest am Seil der Schaukel, seine beiden Hände sind vor dem Seil schön zusammengefaltet. Prokulus schwebt. Geborgen, schwerelos, in göttlichem Frieden schaukelt und schwebt dieser Mensch. Es besuchen ihn sehr sehr viele. Und ich wünsche mir mehr von solchen fast namenlosen Heiligen, die Freude verbreiten, kindliches Vertrauen. Und keiner Menschseele etwas zuleide tun. Das könnte die Seele Europas gut brauchen.

Es gilt das gesprochene Wort.

03.03.2023
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen