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Sendung zum Nachlesen
Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam
So beginnt ein Gedicht von Rose Ausländer. Sie hat was vom Reisen verstanden, auch in seiner Bitterkeit. Wenn jemand dazu genötigt ist, eine Reisende zu sein, weil sie von zu Hause vertrieben wurde. Rose Ausländer, geboren 1901, Jüdin aus dem Buchenland, Bukowina, Czernowitz. Sie hat in New York gelebt, und kehrt wegen ihrer kranken Mutter zurück ins damalige Rumänien. Wird ins Ghetto gesteckt, überlebt in einem Kellerversteck. Und es heißt, sie hätte dann zeit ihres langen Lebens nur noch aus Koffern gelebt. In Hotelzimmern. Nur noch im Wort hat sie eine Bleibe gefunden, so hat sie es selbst gesagt. Und in ihrem Wort finde ich als Leserin, Hörerin ein Zuhause, eine Bleibe, eine Wahrheit, die mich zutiefst überzeugt und mich trägt.
Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam
besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden
Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte
die uns aufblühen läßt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen.
Ich habe dieses Gedicht zum ersten Mal entdeckt, als ich in Regensburg die neue Synagoge besucht habe. Im Zentrum dieser Stadt, auf dem Neupfarrplatz, liegen Quader, Kreise, Rechtecke aus Stein. Dani Karavan hat hier den Grundriss der alten Synagoge in Erinnerung gerufen. Vergesset nicht! Hier war das jüdische Viertel, hier gab es eine brutale Vertreibung. Nun laden diese Steine dazu ein, mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Die neue Synagoge ist ein paar Straßen weiter. Und hier schwebt das Gedicht von Rose Ausländer im Vorhof der Synagoge, im Eingang. Wie eine Krone über dem Haupt jedes Menschen, der hier eintreten möchte. In drei Kreisen übereinandergeschrieben, vergoldet. Man macht ein paar Drehungen, um es zu entziffern. Und wird sofort Teil dieses gastfreundlichen Kosmos, den die Worte schaffen und ausdrücken. Ich bin eine der angesprochenen Freundinnen auf dieser ungeteilten und ach, geteilten Welt. Es ist wie in der Pfingstgeschichte, wo Menschen aus allen Völkern versammelt sind und der Geistfunke überspringt. Plötzlich erkennen sie, dass sie sich gegenseitig verstehen können, auch wenn sie nicht die gleiche Sprache sprechen. Und auch nicht die gleiche Religion teilen. Ein Kommunikationsprogramm. Ein Antirassismusprogramm. Ein Friedensprogramm. Und doch klein und bescheiden, ohne Parteitage und ellenlange Resolutionen, an die sich am Ende kaum jemand hält.
Freunde, Freundinnen auf einer ungeteilten Erde. Wir reisen gemeinsam.
Es gilt das gesprochene Wort.