„Wenn man bedenkt, wie jung wir sind, so kann man nicht an den Tod glauben. Mir scheint manchmal alles nur wie ein schlechter Traum, aus dem ich jeden Moment erwachen muss. Leider ist es die raue Wirklichkeit.“
So schrieb Liane Berkowitz, 19 Jahre alt, am 28. Februar 1943 aus dem Frauengefängnis in der Barnimstraße in Berlin-Friedrichshain an ihre Mutter. Fünf Monate saß sie bereits dort, seit Januar vom Reichskriegsgericht zum Tod verurteilt wegen „Beihilfe zur Vorbereitung des Hochverrats und zur Feindbegünstigung“.
Mit Gleichgesinnten hatte sie kleine Zettel an Litfaßsäulen, Straßenlaternen, Hauswände und Fensterscheiben geklebt mit der Aufschrift „Ständige Ausstellung - Das Naziparadies - Krieg - Hunger - Lüge - Gestapo - Wie lange noch?“. Die Aktion bezog sich auf die Ausstellung „Das Sowjetparadies“ der Reichspropagandaleitung der NSDAP im Berliner Lustgarten, die den Krieg gegen die Sowjetunion durch verzerrte Darstellung der dortigen Zustände rechtfertigen und den Durchhaltewillen der deutschen Bevölkerung stärken sollte.
Liane Berkowitz hatte das aus Überzeugung getan, aber vermutlich nicht mit den grausamen Folgen gerechnet, zu jung, zu leidenschaftlich, zu unbedacht war sie. Ihr Freund Friedrich Rehmer, der zu diesem Zeitpunkt wegen einer an der Ostfront erlittenen Beinverletzung in einem Berliner Lazarett lag, hatte ihr davon abgeraten, obgleich auch er ein Gegner der NS-Herrschaft war.
Und so saß sie nun im Gefängnis, ein knappes halbes Jahr von ihrer Hinrichtung entfernt, an die sie nicht glauben wollte und konnte, anderthalb Monate vor der Geburt der gemeinsamen Tochter - zwischen drohendem Tod und werdendem Leben.
Auch ihr Freund Friedrich, obwohl kriegsversehrt, wurde verhaftet und wartete im Gefängnis auf seine Hinrichtung. Er war Mitglied einer mittlerweile verbotenen Gruppe der Bündischen Jugend, die auf Wanderungen und Lagern im Freien ihre Kräfte erprobte und ein naturnahes Leben praktizierte. Dabei sangen sie gern und viel, bevorzugt die gefühlvollen russischen Lieder. Liane war als Kind russischer Eltern, die 1923 aus der Sowjetunion geflohen waren, mit diesen Liedern vertraut. Auch sie sang und hörte sie gern. Dafür war das Charlottenburger Restaurant „Orient“ eine ideale Adresse, wo es neben hervorragenden Musikern ebenso hervorragendes Essen gab. Hier trafen sich Lanka und Remus - wie die beiden von Vertrauten genannt wurden - gern mit Freunden, plauderten, aßen und sangen zusammen.
Kennengelernt hatten sie sich am Heilschen Abendgymnasium in Berlin-Schöneberg, unweit vom Viktoria-Luise-Platz, wo Liane mit ihren Eltern wohnte. Beide machten dort ihr Abitur. Liane verliebte sich in Friedrich, das begabte Arbeiterkind. Sie schlossen sich einem Freundeskreis an der Schule an, der sich einig in der Ablehnung der NS-Herrschaft war.
Im Unterschied zu Friedrich, der kommunistischen und anarchistischen Vorstellungen anhing, war Liane durch ihre Mutter christlich-orthodox geprägt. Je länger die Haft dauert, je hoffnungsloser ihre Lage wird, desto mehr zeigen die Briefe an ihre Mutter ihre tiefe orthodoxe Verwurzelung und Frömmigkeit. Sie betet für ihre Mutter und bittet diese darum, für sie zu beten. Sie schreibt: „Mamotschka, bete für mich, ich habe solche Angst.“
Ein großer Trost ist ihr eine Ikone, die die Mutter ihr schickt.
Nach der Geburt ihrer Tochter Irina, die sie zärtlich Irka nennt, gelten ihre Gebete neben dem Wohl der Mutter dem ihres Kindes und dem Wunsch, ihr eine gute Mutter zu sein.
Sie darf Irka zunächst in der Zelle stillen. Ende Juni kommt das schwache Kind dann zu seiner Großmutter. Im Oktober 1943, als Liane schon nicht mehr lebt, stirbt es in einem Eberswalder Krankenhaus.
Immer wieder kreisen Lianes Gedanken und Gebete um die Schuld, die sie ihrer Mutter gegenüber empfindet, sei es wegen der Geburt eines unehelichen Kindes, vor allem aber wohl, weil sie der Mutter durch ihre Verhaftung und das Todesurteil Leid zugefügt hat.
Einen Monat nach der Geburt der gemeinsamen Tochter, die Friedrich nie zu sehen bekommt, wird er hingerichtet. Liane weiß seit Juni 1943, dass sie nicht begnadigt wird. Am 5. August wird sie vom Frauengefängnis in der Barnimstraße in die Haftanstalt Plötzensee gebracht. Dort stirbt sie noch am selben Tag unter dem Fallbeil. Eine Grabstätte erhält sie nicht. Ihre Mutter veranlasst später, dass auf ihrem eigenen Grabstein auf dem russisch-orthodoxen Friedhof in Berlin-Tegel auch Liane genannt wird.
Kurz vor ihrer Hinrichtung erbittet Liane vom katholischen Gefängnispfarrer Peter Buchholz die Kommunion und empfängt sie. Danach geht sie gefasst und betend in den Tod.
Peter Buchholz schrieb hinterher: „Dieses Bild des betenden Mädchens auf dem Weg zum Schafott ist mir unvergesslich. Dieses junge, blühende Menschenkind sterben zu sehen, die Augen nach oben – trotz aller blutigen Begleitumstände das Bild einer solchen Erhabenheit, daß ich unwillkürlich an Vorgänge denken mußte, die uns alte Märtyrerakten vom Sterben der ersten Christen berichten. Wie damals Frauen und Mädchen singend und betend für Christus in den Tod gingen, ist auch dieses Mädchen gestorben.“