Wir sehen schon die Lichter
Bilder von der Zukunft
14.09.2024 06:35

Wenn man sich vom Bisherigen verabschieden muss und das Neue schon aufblitzt, braucht es Bilder für die Zukunft.

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Wie viele Diakonissen haben Sie denn noch? Das wurde ich oft gefragt, als ich Vorstand in der Kaiserswerther Diakonie war. Diakonissen, das sind salopp gesagt evangelische Nonnen. Sie widmen ihr Leben ganz dem christlichen Glauben und dem Dienst für andere. Sie bleiben unverheiratet und leben in ihrer Diakonissengemeinschaft. Noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg sah man viele von ihnen in ihrer Tracht: blaues oder dunkles einfaches Kleid, weiße Haube.

Aber vor 20 Jahren war schon klar: Es wird nicht mehr lange dauern, bis alle Diakonissen in Rente wären - im Feierabend, würden sie sagen. Inzwischen werden Frauen aller Lebensformen, auch verheiratete und verpartnerte, berufstätige und ehrenamtliche, nach einem Diakoniekurs eingesegnet – nicht nur in Kaiserswerth. Von den 400 Schwestern zu meiner Zeit lebt kaum noch ein Viertel. Aber die neue Gemeinschaft ist schon zu erkennen. Jüngere Frauen, die voller Zuversicht die Zukunft gestalten wollen und im Dialog mit den Alten bleiben. In der Schatzkiste der Tradition liegt vielleicht Wertvolles für die Zukunft. Damit geht man vorsichtig um.

 

Streit um die Zukunft

Das war nicht immer so. Es gab eine Zeit mit heftigen Auseinandersetzungen. Es ging um das Erbe. Um die Tracht und das Pflegeverständnis, um die Art, wie die Frauen ihren Glauben verstehen und ihren Dienst in Zukunft tun wollen. Wofür stehen wir? Was ist unser Ziel? Das zu klären, ist wichtig in Umbruchsituationen, wenn das Bisherige noch da ist, aber die Zukunft schon aufblitzt und Veränderung erfordert.

In den Kirchengemeinden ist es ja gerade nicht anders:  Die Zahl der Pfarrer und Pfarrerinnen nimmt ab, die Einnahmen gehen zurück, Kirchen werden geschlossen. Und längst wird auch da gefragt: Wieviel Taufen haben Sie denn noch? Aber jetzt werden Tauffeste am See gefeiert, die beliebt sind. Auch da blitzt die Zukunft schon auf.

Dieses NOCH und das SCHON. Das kenne ich auch ganz persönlich. Vielleicht reisen wir doch noch mal nach Lateinamerika? Was schaffen wir noch? Von welchen Träumen müssen wir uns verabschieden? Welche neuen Träume träumen wir schon?

 

Schlupfloch ins Freie

Die österreichische Autorin Barbara Pachl-Eberhart hat einen Text geschrieben über das, was bleibt zwischen dem Noch und dem Schon: "Egal, was kommt, ich kann immer noch summen, laut oder still. Ich kann immer noch grüßen, jemandem zulächeln, einen Atemzug nehmen, der tiefer ist als der vorher. Es gibt immer etwas, das immer noch geht. Immer ein Schlupfloch ins Freie." (1)

 

Vielleicht sehe ich es nur noch nicht? Das Schlupfloch ins Freie, das Neue, das kommt. Es wird Zeit, dass ich bewusst nach vorn schaue und die Zukunft gestalte. Dass ich Neues wage. Dazu brauche ich aber ein Bild von der Zukunft. Vielleicht ein Skizzenboard, auf dem ich den Roman entwerfen kann, den ich schon immer schreiben wollte, und schöne Orte, an denen ich ihn tatsächlich schreibe? 

 

In jedem Noch das Schon

Schon wenn ich darüber spreche, locken mich die Bilder. Ich wage es, noch weiter in die Zukunft zu schauen. Über das Ende hinaus - was kommt danach? Vielleicht ist es doch ein Problem, das ich mir alle Bilder vom Himmel abgewöhnt habe – weil wir letztlich nicht genau wissen, was kommt. Nur Licht und Liebe, Geborgenheit und Versöhnung. Meine Großmutter hat sich den Himmel noch ausgemalt: Da sitzen wir an einem großen Tisch und erzählen. Jemand spielt Klavier, es wird getanzt. Und wir spiegeln unser Leben in den alten Fotos, die hier stehen. "Wir sind noch nicht im Festsaal angelangt, aber wir sind eingeladen. Wir sehen schon die Lichter und hören die Musik", singt der Priester und Dichter Ernesto Cardenal. Da ist es wieder - dieses Noch-Nicht und das Schon.

"Wie viele Diakonissen haben Sie denn noch?" Ich wünsche mir, dass in all den Fragen nach dem Noch das Schon bereits anklingt. Dass wir die leuchtende Aura schon sehen, in die sich einmal alles verwandeln wird. So weit ist es noch nicht. Aber wir können es schon ahnen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Literaturangaben:

  1. Frauenkalender 2024 "Nur Mut"

 

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