Unser Autor Jan von Lingen hört morgens die Glocken der nahegelegenen Kirche. Er findet: Ein schöneres Wachwerden als durch Wecker oder Smartphone. Denn beim Glockenklang schwingt ein Segenswunsch mit.
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Es ist früh am Morgen. Ich liege noch im Bett und höre Glockenschläge. Die St. Sixti Kirche in meiner Stadt Northeim bei Hannover ist nicht weit entfernt, das Fenster ist gekippt und so zähle ich im Aufwachen mit. Eins, zwei drei, vier – vier Schläge für die Viertelstunden. So beginnt oft mein Tag – mit dem Klang der Glocken.
Als Pfarrer der St. Sixti Kirche kenne ich sie gut. Nicht nur die beiden kleinen Stundenglocken in der Turmspitze. Wir haben noch drei weitere in 50 Metern Höhe. Die große Glocke ist 2700 Kilogramm schwer, ein "zweieinhalb Tonner" sozusagen. Dann die mittlere Glocke und noch die kleine Glocke, 800 Kilogramm leicht, dafür aber schon rund 900 Jahre alt. Egal was Menschen erlebt haben – Krieg und Hunger, Frieden und Feste – die Glocken waren da und haben sie begleitet.
Denn was heute Messengerdienste und Medien tun, war früher die Aufgabe der Glocken: Sie haben Nachrichten gesendet, kündeten Ereignisse wie Markt oder Gericht an, warnten bei Feuer und anderen Gefahren. Auch Familienereignisse in Stadt und Dorf wurden so veröffentlicht: Dann läutete die Hochzeitsglocke oder die Sterbeglocke.
Glocken gaben den Menschen einen täglichen Rhythmus vom Aufstehen bis zum Abendbrot, denn früher kamen Kinder beim Abendläuten vom Spielen nach Hause. Lange bevor es Armbanduhren und Smartphones gab, haben Glocken die Zeit verkündet und Menschen verbunden.
Es ist also sechs Uhr morgens, und ich höre also Glockenschläge. Vier für die Viertelstunden, dann sechs Glockenschlägen für die Stunden. Und meine Gedanken folgen weiter den Geschichten der Glocken.
Die Glocke ist eines der größten und zugleich auch ältesten Musikinstrumente der Welt. Jede ist Handarbeit, oft verziert und darum ein Einzelstück. Schon immer gehen Handwerk und Kunst Hand in Hand. Und oft verbinden sie sich mit einer Botschaft. Manche Glocken haben Namen. Sind drei Glocken im Turm, so heißen sie zum Beispiel "Glaube", "Hoffnung", "Liebe" - und sie läuten diese Botschaft übers Land. Oder "Friede". Auch so ein Glockenname. Ein Wunsch, eine Hoffnung für die Menschen, die die Glocke hören.
Die Kirche in meiner Hörweite hat noch ein besonderes Läuten. Wenn sie am Morgen um t Uhr das erste Mal zur vollen Stunde schlägt, folgen weitere Glockentöne. Diesmal ganz tiefe, dunkle, leise. Insgesamt neun weitere Schläge, mit dem Hammer auf der großen, alten Glocke angeschlagen.
"Angelusläuten" heißt dieses ungewöhnliche Läuten zu Tagesbeginn. Angelus bedeutet Engel. Das erinnert in der katholischen Kirche an den Engel, der Maria erschienen ist und ihr verkündet hat: Du wirst den Sohn Gottes gebären. Das Angelusgebet mit dem Läuten wurde wohl im 14. Jahrhundert eingeführt. Kirchliche Gebräuche überdauern eben schon mal ein halbes Jahrtausend, ohne dass wir es wissen. Auch in manchen evangelischen Kirchen – wie bei uns – wird der Tag so eingeläutet.
Aber warum neun Schläge? Neun Engelchöre soll es geben, so war die Vorstellung im frühen Mittelalter. Und so schleicht sich die Zahl neun ein in die Lyrik, in die Kunst, in die Zahlenmystik ein, in die Architektur von Kirchgebäuden und eben auch in die Läuteordnung. Die Engel sollen bei uns sein, am Morgen und am Abend auch, denn dann erklingt das Angelusläuten von der St. Sixti Kirche in Northeim noch einmal. Neun Glockenschläge für die Engel um uns…- morgens und abends.
Ich habe mir angewöhnt, kurz innezuhalten, wenn ich irgendwo Glocken läuten höre. Diese kleinen Auszeiten in der beschleunigten Welt tun mir gut. Übrigens auch am frühen Morgen um sechs. Wenn ich in der Früh den ersten Glockenschlägen lausche, nicke ich manchmal noch einmal kurz ein, bevor gleich darauf der Wecker loslegt mit seinem ganz gemeinen Piepen.
Es gilt das gesprochene Wort.
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