Wer wird Präsidentin oder Präsident der Vereinigten Staaten? Am Tag der Wahl in den USA erinnert unsere Autorin an eine Fabel in der Bibel zu der Frage: Welche Eigenschaften braucht es zum Regieren?
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Er ist uralt: Der Wunsch, einen zu haben, der das Denken, das Diskutieren und das Entscheiden abnimmt. Einen richtigen Anführer, der sagt, wo’s langgeht, der Schluss macht mit dem ewigen Parteiengezänk, der nicht lange fackelt und durchgreift.
Er ist uralt: Der Wunsch, einen zu haben, "einen von uns", der volksnah ist. Einen starken Mann, an den man sich hängen, in dessen Schatten man sich verstecken kann und bei dem man geborgen ist.
Er ist uralt, dieser Wunsch. Ururalt sogar. Davon erzählt eine Geschichte aus dem Alten Testament, eine Wahnsinns-Geschichte, die ich Ihnen heute Morgen unbedingt weitererzählen muss. Sie spielt in Sichem, einer antiken Stadt im heutigen Palästina. Ihre Hauptdarsteller: zwei Männer mit Namen Abimelech und Jotam.
Abimelech ist der Machtmensch in der Erzählung. Wir erfahren nicht, wie er aussieht. Ich stelle ihn mir vor wie einen der seltsamen wüsten Typen mit dieser seltsamen wüsten Frisur, die in den letzten Jahren bei den Autokratenfriseuren gewaltig angesagt ist. Aber vielleicht ist er auch einer von der sehnigen Sorte, die mit nacktem Oberkörper auf hohem Ross reiten. Jedenfalls: Abimelech hat mächtig Lust, König zu werden. Und zwar in Sichem. In Sichem nämlich regieren bislang 70 Männer. Und Abimelech meint: Da kommt nichts bei raus. Zu viel Gerede. Zu viele Kompromisse.
"Was ist besser für euch?", fragt Abimelech die Leute in Sichem. "Sollen 70 Männer über euch bestimmen? Oder soll nur ein einziger Mann über euch herrschen? Wenn ihr euch entscheidet, dann denkt daran: Ich bin euer Fleisch und Blut!" Mit dieser Wahlwerbung gehen seine Leute unters Volk.
"Als sie alle Vorteile seines Königtums genannt hatten", erzählt die Geschichte in der Bibel, "ließen sich die Leute in Sichem begeistern. Und so stellen sie sich hinter Abimelech. Denn sie sagten: ‚Er ist einer von uns!‘ Daraufhin gaben sie ihm 70 Silberstücke aus dem Tempel. Mit diesem Geld stellte Abimelech eine Truppe zusammen. Die Männer aber, die er angeworben hatte, hatten nichts zu verlieren und waren zu allem fähig."
Mit dieser Truppe richtet Abimelech ein Blutbad an. Er verfolgt und tötet alle, die ihm gefährlich werden könnten.
Nur einer überlebt: Jotam. Und dieser Jotam hat die Courage, eine öffentliche Rede zu halten. Er stellt sich dazu auf einen Berg, damit ihn alle hören. Jotam hält keine Grundsatzrede. Er erzählt dem Volk einfach diese Fabel:
Die Bäume wollten einen König einsetzen. Also sagten sie zum Olivenbaum: "Sei du unser Herrscher!" Doch der Olivenbaum antwortete ihnen: "Soll ich denn keine Oliven mehr hervorbringen? Mit ihrem Öl werden Götter und Menschen geehrt. Nein, ich will nicht über den Bäumen schweben!"
Da sagten die Bäume zum Feigenbaum: "Auf, sei du unser Herrscher!" Doch der Feigenbaum antwortete ihnen: "Soll ich denn keine Feigen mehr hervorbringen? Die Früchte sind süß und schmecken köstlich. Nein, ich will nicht über den Bäumen schweben!"
Da sagten die Bäume zum Weinstock: "Auf, sei du unser Herrscher!" Doch der Weinstock antwortete ihnen: "Soll ich denn keine Trauben mehr hervorbringen? Mit ihrem Saft werden Götter und Menschen erfreut. Nein, ich will nicht über den Bäumen schweben!"
Schließlich sagten alle Bäume zum Dornbusch: "Auf, sei du unser Herrscher!" Da antwortete der Dornbusch den Bäumen: "Ist das euer Ernst? Wollt ihr mich wirklich zum König über euch salben? Dann kommt und sucht Schutz in meinem Schatten! Wenn nicht, soll Feuer von meinen Dornen ausgehen." (Richter 9,8-15)
Nachdem Jotam diese Fabel erzählt hat, bleibt ihm nichts als die Flucht. Aber gut, dass seine Rede geblieben ist. Gut, dass sie niedergeschrieben ist. Und gut, dass jeder sie heute nachlesen und nachhören kann, heute am Tag dieser wichtigen Wahl, wer im mächtigsten Land der Welt regieren soll.
Es gilt das gesprochene Wort.
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