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Advent: Sehnsucht nach mehr. Erfüllung suchen zwischen Besinnlichkeit und Glühwein. Das haben überraschenderweise Jesus und Dionysos gemeinsam. Der Vergleich der beiden zeigt, was "Leben in Fülle" wirklich bedeutet.
Das Leben und volle Genüge
Dionysus und Jesus
30.11.2025 07:05

Advent: Sehnsucht nach mehr. Erfüllung suchen zwischen Besinnlichkeit und Glühwein. Das haben überraschenderweise Jesus und Dionysos gemeinsam. Der Vergleich der beiden zeigt, was "Leben in Fülle" wirklich bedeutet.

 

Sendetext nachlesen:

Die Welt ist nicht genug! Oder doch? Wie lebt man ein erfülltes LebWeihen und wo findet man Erfüllung? Der Advent ist da und viel Sehnsucht liegt in der Luft. Die Erwartungen sind unterschiedlich: Das Jahr gut abschließen können oder wenigstens einen Haken daran machen. Auf ein schönes Weihnachtsfest zugehen. Ein paar selige Momente in der Adventszeit erleben – die einen bei einem Gottesdienst in der Kirche, die anderen bei Bachs Weihnachtsoratorium oder Händels Messias. Wieder andere glühweinselig mit "Last Christmas" auf einem Weihnachtsmarkt.

Auf irgendeine Weise darf die Adventszeit einen Glanz haben. Sie darf eine Ahnung geben: Die Welt ist nicht genug. Es gibt mehr als das Übliche. Es muss doch mehr geben. Aber wann? Ganz im Hier und Jetzt oder erst im Himmelreich? Die Angebote und Antworten sind vielfältig. Jede Religion gibt sie auf ihre Weise und jeder Mensch auch.

Vor zweihundert Jahren findet sich von dem Pfarrer und Liederdichter Karl August Döring folgender bissige Aphorismus:

"Es gibt Menschen, die von Luther nichts zu wissen scheinen als den Reim, wer nicht liebt Weiber, Wein und Gesang, der bleibt ein Narr sein Lebelang. Einen solchen dürfte man, da er so wenig von Luthers Geist kennt, wohl als Grabschrift auf seinen Leichenstein setzen: er liebte Weiber, Wein und Gesang und blieb doch ein Narr sein Lebelang."

Pfarrer Döring hat vollkommen recht, was den Geist und das angeht, wofür Martin Luther stand, in erster Linie nämlich für Erneuerung des christlichen Glaubens und die Reform der Kirche. Dass er Musik und Gesang liebte, stimmt zwar. Mehr als Wein mochte er aber Bier. Und Luther war mit der früheren Nonne Katharina von Bora verheiratet. Von einer Mehrzahl an Frauen, hier Weiber genannt, die er liebte, ist überhaupt nichts bekannt.

In jedem Fall trifft der Vers Luthers Hauptanliegen nicht. Und er stammt gar nicht von Martin Luther. Da irrt nämlich auch Pfarrer Döring. Sein Aphorismus zeigt aber, dass man schon 1825 und manchmal noch bis heute meint, der Satz stamme von Martin Luther.

Tatsächlich ist der Vers jedoch weder in Luthers Schriften noch in seinen Tischreden zu finden. Er wird 1775 zum ersten Mal erwähnt. "Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang." Nicht gerade ein Spruch für einen Adventskalender. Das kennzeichnet auch weniger das christliche Leben; es ist vielmehr eine Zusammenfassung des Dionysischen. Es bringt etwas trivial und knapp auf den Punkt, wofür der griechische Gott Dionysos steht, der bei den Römer Bacchus hieß.

"Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang" klingt eher nach patriarchaler Stammtischlogik oder studentischer Weinseligkeit als nach einem echten Weg zur Erfüllung. Aber Rausch und Religion gingen schon früher Hand in Hand und tun es an manchen Stellen bis heute. Das liegt daran, dass in allen Religionen Feste eine besondere Rolle spielen. Es geht um die Steigerung und Intensivierung des Lebensgefühls. Das kann man natürlich ganz weltlich erleben. Aber es gehört auch zu den Erfahrungen religiöser Menschen: Gottes Nähe beschert Glücksgefühle. Gottes Nähe schenkt einen Überschwang des Lebens.

Im Neuen Testament verbindet sich das mit Jesus, dem Sohn Gottes, dessen Geburt wir an Weihnachten feiern. Jesus bringt Leben in Fülle. Im Johannesevangelium zeigt der erwachsen gewordene Jesus das mit dem ersten Wunder, das er tut: Er verwandelt bei einer Hochzeit Wasser in Wein. In den Augen seiner Kritiker macht das Jesus suspekt: Das soll ein Mann Gottes sein, der so hedonistisch feiert? Er führt sich ja eher auf wie einer aus dem Gefolge der heidnischen Götter. So wie der Gott Dionysos und dessen Feierbiester.

Der Kult des Dionysos bildet einen Hintergrund zur Erzählung von Jesu Wein-Wunder. Wenn Jesus seinen Anhängern verspricht "Ihr sollt das Leben und volle Genüge haben", dann passt das auch gut zu Dionysos. Diese Sendung geht den Berührungspunkten, den Parallelen und Unterschieden zwischen Dionysos und Jesus nach. So wird hoffentlich plastischer und greifbarer, was das ist: Leben und volle Genüge.

Jesus und Dionysos. Jesus oder Dionysos! Wie aktuell diese uralte Fragestellung ist, hat letztes Jahr die Eröffnungsfeier der olympischen Spiele in Paris gezeigt.

Die Sozialen Medien quollen nach der Eröffnung über wegen einer Szene: An einem zur großen Tafel umfunktionierten Laufsteg steht ein gutes Dutzend sehr unterschiedlicher Menschen. Vor ihnen sitzt ein Mann in einem Kranz aus Blumen und Früchten. Der Mann mit gelbem Vollbart trägt Girlanden mit Früchten auf dem Kopf und um den blau bemalten Körper.

Die Szene spielt auf den Gott Dionysos und auf ein Festmahl im Olymp an. Aber allein die Konstellation "Festtafel und ein Mann in der Mitte" ließ einige fälschlicherweise glauben, diese Szene verhöhne das Letzte Abendmahl Jesu und stelle das berühmte Gemälde von Leonardo da Vinci nach. In rechtsextremen Kreisen, bei der AfD, bei Donald Trump und Viktor Orbán war gar von einer Schande die Rede und von Verletzung religiöser Gefühle.

Sie haben die Szene falsch verstanden, meines Erachtens absichtlich. Meine Vermutung ist: Die Rechten und selbsterklärten Frommen störte in Wahrheit nicht, dass anscheinend Jesus verhöhnt wurde, sondern das, wofür Dionysos steht. Die wilde und unkontrollierbare Seite des Lebens. Dionysos ist der griechische Gott für Rausch und Raserei, für ungezügelte Lust und Orgien, für Tanz und Theater.

Wer also hätte zu der rauschhaften Eröffnung der Olympischen Spiele in Paris mit Tanz, Gesang und Theater besser gepasst als er? "Wein, Weib und Gesang", das ist die triviale Formel für diesen Gott aus einseitig männlicher Sicht. Tatsächlich sind Wein, Tanz und Erotik die Hauptthemen bei Dionysos. Doch er und seine Themen sind alles andere als oberflächlich und trivial.

Zur Zeit Jesu wusste man das. Da gehörte Dionysos zu den beliebtesten der olympischen Götter. Er wurde ernst genommen und verehrt, auch in Galiläa, wo Jesus wirkte. Viele Städte um Galiläa sahen diesen Weingott als ihren Gründungsvater. Der römische Dichter Ovid sagte über Dionysos: Kein Gott sei gegenwärtiger, keiner menschlicher als er. (Metamorphosen 3, 685f.)

Dionysos war vital und prächtig. Man feierte ihn und folgte ihm. Als einziger griechischer Gott hatte er eine menschliche Mutter und eine Biographie mit Kindheit. Er starb und erstand wieder. Es ist unmöglich, Dionysos auf eine kurze Formel zu bringen. Er hatte fast 500 verschiedene Beinamen und mit ihm ist viel Gegensätzliches verbunden: Zivilisation und wilde Kultur, Lachen und Klage, Ruhe und Aufruhr, Ordnung und Destruktion, Kosmos und Chaos, Tod und Leben.

Der Wein war sein Geschenk an die Menschen und im gemeinsamen Genuss des Weines war der Gott erfahrbar. Dionysos stand aber für viel mehr, nämlich für das Geheimnis des Lebens. Seine Gefolgsleute, Männer wie Frauen erfuhren eine Steigerung des Lebens in der Verehrung für ihn. Offenbar glaubten oder hofften seine Anhänger an das Weiterleben nach dem Tod. Auch wenn der Gott selbst eigentlich nie betrunken abgebildet wird, gehörten zu seinem Kult Rausch und Raserei.

Auch Jesus ist fest mit dem Wein verbunden. Er bezeichnete sich selbst als Weinstock und die Reben sind – im wahrsten Sinne des Wortes – seine Anhängerinnen und Anhänger. Für sie damals und bis heute für jede und jeden, die sich dazu zählt, ist Jesus im Wein erfahrbar beim Abendmahl.

Rausch und Raserei scheinen da zwar ferne. Zumindest aber hat Jesus ebenfalls gern gefeiert. Er war sogar als Fresser und Weinsäufer verschrien, berichten die Evangelien. Das Johannesevangelium erzählt, wie Jesus auf einer Hochzeit in dem galiläischen Dorf Kana Wasser in Wein verwandelte. Und das hat direkt oder indirekt mit Dionysos zu tun.

Das Dorf Kana, in dem Jesus das Weinwunder vollbrachte, liegt im Norden Galiläas. Zur Zeit Jesu war Israel unter römischer Herrschaft und insgesamt schon über drei Jahrhunderte unter Fremdherrschaft. Und zu ihr gehörte der Einfluss des Hellenismus, ganz allgemein gesprochen des griechischen Denkens. Ein Bestandteil davon waren die Götter der Griechen und Römer. Das Judentum war seit drei Jahrhunderten im dauernden Austausch mit dem griechischen Denken, übernahm manches, wehrte sich gegen vieles.

In dem galiläischen Dorf Kana waren jedenfalls Dionysos und sein Kult sehr präsent. Die nahe gelegene Stadt Bet Schean behauptete gar, Geburtsort von Dionysos zu sein, und im 8 km entfernten Ort Sepphoris fand man ein antikes Dionysosmosaik.

Eine altorientalische Hochzeit wie die in Kana dauerte für gewöhnlich eine Woche. Dass da auch der Wein zur Neige gehen konnte, ist gut vorstellbar. Jesus und seine Jünger waren jedenfalls zu dieser Hochzeit eingeladen. Als sie dort sind, ist eben gerade der Wein leer getrunken. Für das junge Paar und die ganze Familie ist das nicht nur eine Blamage. Es ist wie ein böses Vorzeichen. Maria, die Mutter von Jesus ist ebenfalls auf der Hochzeit und merkt: Ihnen geht der Wein aus. Sie sagt es Jesus und sorgt im Hintergrund dafür, dass die Diener tun, was Jesus ihnen sagt. Das Johannesevangelium erzählt:


"Es gab dort sechs große Wasserkrüge aus Stein.
Die Juden benötigten sie, um sich zu reinigen.
Jeder Krug fasste etwa 100 Liter.
Jesus sagte zu den Dienern:
"Füllt die Krüge mit Wasser."
Die füllten sie bis zum Rand.
Dann sagte er zu ihnen:
"Schöpft jetzt etwas heraus und bringt es dem,
der für das Festessen verantwortlich ist."
Sie brachten es ihm.
Als der Mann einen Schluck davon trank,
war das Wasser zu Wein geworden.
Er wusste natürlich nicht, woher der Wein kam.
Aber die Diener, die das Wasser geschöpft hatten,
wussten Bescheid.
Da rief er den Bräutigam zu sich
und sagte zu ihm:
"Jeder andere schenkt zuerst den guten Wein aus.
Und wenn die Gäste dann betrunken sind,
folgt der weniger gute.
Du hast den guten Wein bis jetzt zurückgehalten."
(Johannes 2, 6-9 Basisbibel)

Jesus sorgt mit seinem Wunder dafür, dass die Festfreude anhält. Für so manchen christlichen Prediger und Bibelausleger war dieses Weinwunder Jesu ziemlich starker Tobak. Wie kann sich Jesus an einem Besäufnis beteiligen und es sogar fördern? Manche fanden, es sei ein völlig unnötiges Wunder gewesen. Es hilft niemandem wirklich. Es heilt keinen. Das Weinwunder zu Kana passt nicht in ein christliches Lebens- und Erziehungsprogramm, das auf Mäßigung, Besonnenheit und womöglich Abstinenz setzt.

Ganz anders aber hätte es ein Zeitgenosse Jesu wahrgenommen, ob in Kana und Umgebung oder irgendwo im gesamten Mittelmeerraum. Zum einen gehörte Wein unbedingt zu einer Hochzeit und zwar reichlich. Auch im alten Israel galt der Wein als Gottesgabe. Zum anderen wäre diesem Zeitgenossen sofort Dionysos eingefallen. Denn der galt im ganzen Mittelmeerraum als der Gott des Weines. Und auch von Dionysos wurden ähnliche Weinwunder berichtet. Jesus macht in Kana also Dionysos Konkurrenz. Die Botschaft ist klar: Jesus steht für Lebensfreude, kann sich locker mit Dionysos messen und hat das Wohl der Menschen im Sinn.

Im Weinwunder Jesu wird anschaulich, was sein Satz: "Ihr sollt das Leben und volle Genüge haben" bedeuten kann. Sind also Musik und Tanz, Wein und Erotik Wege zum erfüllten Leben? Erreicht man so volles Genüge?

Dieses Lied hat die Rolling Stones vor 60 Jahren weltberühmt gemacht. Es wurde zur Protesthymne einer ganzen Generation und hält bis heute diese Frage offen: Wo und wie ist Befriedigung zu finden? Das Lied beschreibt: Im Konsum und Kaufrausch gelingt es nicht. Die Versprechungen aus Radio und TV stimmen nicht. Und auch in der Liebe und im Sex gibt es "no satisfaction", keine dauerhafte Erfüllung.

Mit der eingängigen Melodie und dem wiederholten "I can’t get no satisfaction" wird der unbedingte Drang, Befriedigung zu finden, mehr als deutlich. Das Lied schreit nach Erfüllung und macht zugleich klar: Im maßvoll gesitteten Leben ist sie nicht zu finden. Dann doch eher im Rausch und in der Ekstase? Im Weg des Dionysos?

Dabei wussten schon die alten Griechen: Jeder Rausch hat seinen Preis. Sie hatten deswegen bei ihren Symposien, den Abendgesellschaften für Männer meist ganz flache Trinkschalen, aus denen man den Wein nur langsam trinken konnte. Außerdem trank man den Wein nicht pur. Das war nur etwas für Barbaren und Trunkenbolde. Man vermischte ihn mit Wasser. Und so genoss man den Gott im Wein gemeinsam und führte den rauschhaften Zustand kontrolliert herbei. Ekstase in Tanz, Erotik und Rausch schenkt den Menschen gesteigertes, ja vielleicht erfülltes Leben, kostet sie aber auch viel.

Der Gott Dionysos hat viele Seiten. Die lebenssteigernde gehört dazu, aber auch die zerstörerische. In seiner eigenen Biographie muss er immer wieder sterben und dann wiederkommen. Deswegen hofften seine Anhängerinnen und Anhänger auch auf ein Leben nach dem Tod. Klar aber war es nicht, welche Hoffnungen man sich bei Dionysos auf ein ewiges, das Sterben umschließendes, ja den Tod besiegendes Leben machen konnte. Da war für Jesu Zeitgenossen klarer, wofür Jesus stand. Sein Versprechen von Leben und vollem Genüge ist mindestens so jenseitig, wie es diesseitig ist.

Christinnen und Christen leben in der Hoffnung auf ein ewiges Leben voller Genüge. Das kann man als billige Vertröstung missverstehen, muss man aber nicht. Für Jesus waren die Feste, die er gern feierte, Hinweise auf dieses Leben in Fülle, das aber auf Erden nur zeichenhaft und bruchstückhaft erfahrbar ist.

Ekstatische Erfahrungen können religiös sein. Sie machen erlebbar, dass da mehr ist und viel mehr sein könnte. Aber wer dieses Gefühl und Erleben dauernd erzwingen und festhalten will, scheitert oder zahlt einen hohen Preis. I can’t get no satisfaction: Das stimmt und stimmt auch nicht. Ich kann das Leben als Geschenk begreifen, fröhlich diese Welt und dieses Leben annehmen mit dem, was es zu bieten hat. Wenn ich nicht erwarte, dass ich darin alle Erfüllung finde, lebe ich versöhnter und zufriedener.

Dionysos und Jesus müssen nicht unversöhnliche Gegensätze sein. In manchem sind sie sich auch nahe. Ich hoffe getrost auf das, was das Wort Advent besagt: Da kommt noch was.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
1. Scene from Afar, Jan Garbarek, In Praise of dreams
2. As seen from above, Jan Garbarek, In Praise of dreams
3. Rolling Stones, I can’t get no satisfastion 

4. A Tale Begun, Jan Garbarek; In Praise of dreams


Literatur dieser Sendung:
1. 
Friedrich Sander: Der Menschenfreund. Eine christliche Zeitschrift. Elberfeld 1825, S. 265-267.266
2. https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Dionysus_Mosaic-Zippori