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Mit dem Tod – tanzen! Berlin, Alexanderplatz, Eingang zur Marienkirche. Ein gemalter Franziskanermönch weist den Weg zum Totentanz, verblasst zwar, aber immer noch erkennbar an der Wand der Turmhalle. Seine Hand zeigt den Weg, es könnte auch eine segnende Geste sein. Die diesen Weg gegangen sind, die ihn noch gehen werden – sie sollen gesegnet sein. Es ist der Weg, den alle gehen.
Pfarrer Eric Haußmann:
Leben wolltest du ohne große Sorgen, jetzt musst du erleiden den bitteren Tod. Wenn sie die Marienkirche betreten werden sie von diesem Franziskaner zusammen mit dem Tod empfangen und dieser Empfang führt sie fort in die Kirche hinein, zuallererst an der Wand der nördlichen Turmhalle entlang und dort sehen sie einen Reigen, einen Tanzreigen.
Gut zwei Meter hoch und auf eine Länge von 23 Metern – ein Tanz. Wäre da nicht die Glaswand, die das Gemälde aus dem 15. Jahrhundert heute schützt, wäre es nicht an so vielen Stellen verblasst – niemand käme achtlos an diesem Totentanz vorbei. Und an dem, was er zeigt, kommt ohnehin niemand vorbei, damals nicht – und heute nicht. Denn nicht die Toten tanzen hier, es ist der Tod, der mit den Lebenden tanzt. Und zwar mit allen, gleich welcher Herkunft und welchen Standes.
Pfarrer Eric Haußmann:
Sie finden eigentlich die ganze Welt des spätmittelalterlichen Berlins an dieser Wand. Kaufleute, Kirchenleute, Stadtleute, Sie finden Händler, Arbeiter im mittelalterlichen Sinne natürlich. Sie finden in der Mitte Christus am Kreuz. Und sie finden immer wieder den Tod. An dieser Wand gehen Sie entlang und sehen alle Menschen, die damals in Berlin lebten, wie sie mit dem Tod tanzen und wie sie mit dem Tod reden. Sie sprechen den Tod direkt an und legen ihm dar, dass es noch nicht Zeit ist zu sterben und erzählen ihm, was sie alles geleistet haben in ihrem Leben, in wunderbaren Versen, die nur noch sehr blass zu sehen sind an der Wand. Und der Tod antwortet fast jedem dasselbe, er sagt ihnen nämlich: egal, was du warst im Leben, egal was du erreicht hast, im Tod bist du genauso wie dein Nachbar. Im Tod werdet ihr alle gleich.
Eric Haußmann, Pfarrer an der Marienkirche, kennt den Totentanz. Es ist nicht das erste Mal, dass er ihn Besuchern der Kirche erklärt. Als Prediger hat er auch seinen Platz als Bild im Ständereigen des Totentanzes. ‚Herr Prediger‘, sagt ihm da der Tod in den verblassten Versen unter dem Bild, ‚Viele Reden habt ihr über mich gehalten, nun müsst ihr mit mir zum Tanze gehen.‘ (Vers unter dem Bild vom Prediger im Totentanz) Dieser mittelalterliche Reigen, lässt man sich auf ihn ein, dann nimmt er einen an die Hand. Es ist Absicht des Totentanzes, seinen eigenen Platz in diesem Reigen zu entdecken. Folgt man als Betrachter der Tanzbewegung, dann schaut man den Todesgestalten neben jedem der Standesvertreter ins Gesicht – in die Vorderpartie des grinsenden Schädels. Man hebt erschrocken die Hand zur Abwehr. Oder man reicht ihm die Hand, dem eigenen Tod...
Einmal eingereiht ist man nicht allein in diesem Totentanz im Eingang der Marienkirche. Trotz aller Unterschiede in Bildung, Stand und Ansehen ist man unter seinesgleichen im Angesicht des Todes. Als Kreistanz gedacht ist man, gleich an welcher Stelle man sich bewegt, in derselben Nähe zur Mitte, dem gekreuzigten Christus:
Pfarrer Eric Haußmann:
Im Kreuz liegt ein großer Trost, das ist ja die Geschichte vom Karfreitag, dass indem wir Christus am Kreuz sehen wir Gott sehen, wie er mit uns leidet. So wie er in der Mitte der Menschen im Totentanz tanzt und auch ihr Leid, sie klagen dem Tod ja auch ihr Leid, ihre Sorge vor dem baldigen Tod oder ihre Sorge, dass sie in diesem Leben noch nicht im Reinen sind mit sich selbst oder mit andern Menschen, die ihnen nahe stehen. In dieser Mitte steht auch dieser Christus, der auch immer wieder sozusagen vom Kreuz blickt und sagt: ich kenne deine Situation und ich begleite deine Situation, du bist darin nicht allein.
In dieser Situation tanzen – das ist nicht nur schwer vorstellbar, sondern am Totensonntag als stillem Tag auch durch die Feiertagsgesetze eingeschränkt. Und doch spielt schon das frühmittelalterliche Motiv des Totentanzes ganz bewusst mit dieser Konfrontation:
Pfarrer Eric Haußmann:
Es ist ein Tanz mit dem Tod, das ist ganz eindeutig. Es geht nicht darum den Tod hinauszuschieben oder abzugrenzen, es geht auch nicht darum den Tod zu ignorieren, sondern den Tod als etwas zu verstehen, was zu unserm Leben gehört. Der Tod kommt in unser Leben nicht erst am Ende, sondern wir sind umgeben von ihm und das Bild geht aber ein Stück weiter und sagt: der Tod ist nicht das Ende, der Tod ist ein Übergang in eine andere Zeit, christlich gesagt in eine Ewigkeit.
Wer nicht stehenbleibt in der Turmhalle der Marienkirche, wer sich vom tanzenden Tod an die Hand nehmen und bewegen lässt, wird Teil des Totentanz-Reigens und zieht mit ihm hinein in die Kirche:
Pfarrer Eric Haußmann:
Der Totentanz steht nicht losgelöst vom Rest des Kirchenraumes sondern alle versammelten Menschen tanzen mit dem Tod hinein und tanzen in gewisser Weise dem Osten entgegen. Dem Ort, an dem die Auferstehung symbolisch hell wird am Ostermorgen, in diese Richtung der Ewigkeit zieht der ganze Reigen und wenn Sie die Kirche betreten ziehen Sie mit diesen Menschen mit. Sprich: Sie bleiben nicht beim Tod stehen, sondern sie erleben den Gang mit dem Tod gemeinsam hin zum Leben, also durch den Tod hindurch, wie man theologisch sagt.
Das ist Trost mit dem Jenseits, aber nur die eine Seite der ambivalenten Todesauffassung. Der im Totentanz personifizierte Tod gilt gleichermaßen als von Christus überwunden wie auch als Vollstrecker göttlichen Willens. Zwei Seiten, die einen Raum öffnen für die Eigenverantwortlichkeit des Betrachters. In diesem Raum ist der gesamte Tanz ein Abbild des Weltgerichts, mit Christus als Erlöser, Beistand und Richter über die Menschheit gleichermaßen.
Die einzelnen Szenen des Reigens, Betrachter wie Ständevertreter als Tanzpaare mit dem Tod, sind individuell. Der Tod konfrontiert mit dem eigenen Tun.
Pfarrer Eric Haußmann:
‚Ach guter Tod, gib mir doch noch ein Jahr Frist, denn in meinem Leben bin ich noch nicht im Reinen, hätte ich wohl viel Gutes getan so könnte ich nun fröhlich mit dir gehen, o weh, ich sollte jetzt nicht mehr länger bitten, das Leiden Jesu möge mich nun erlösen.‘ (Vers unter dem Bild vom Küster im Totentanz)
Das bedeutet nun nicht, dass es nur um Tod geht, es bedeutet besonders auch, es geht um die Frage: wie zu leben. Wie sieht gelingendes, wie sieht rundes Leben aus. Und das ist die Frage, mit der jeder Kirchenbesucher, jede Kirchenbesucherin konfrontiert wird, wenn sie in dieses Haus kommt.
Dass es ausgerechnet der Tod ist, der einen Antworten auf die Frage nach dem eigenen Leben finden lässt – diese Erfahrung hat der schwäbische Pfarrer Heiko Bräuning gemacht und in einem Buch gesammelt. Vier Jahre lang lebte er auf den eigenen, fiktiven Tod zu: in seinem Deadline-Experiment.
Pfarrer Heiko Bräuning:
...nämlich dass ich mir wirklich einen Todestag vorstelle und damit meine Lebenszeit begrenze um diesen Gedanken nachzuleben, nachzufühlen, nachzuspüren, was es heißt: Lehre mich bedenken, dass ich sterben werde – nicht irgendwann, sondern an einem bestimmten Tag, auf dass ich klug werde…
Mein Bestreben war zu sagen, indem ich mich mit dem Sterben und dem Tod vertraut mach, fängt mein Leben vorher, vor dem Tod schon an. Es gibt schon vor dem Tod ein Leben und muss mich nicht immer aufs Jenseits vertrösten. Ich darf hier und jetzt und heut anfangen glücklich zu leben, meine Gaben, meine Talente, meine Pfunde wuchern zu lassen, einzusetzen.
Klug zu werden, das hat für Heiko Bräuning, Familienvater und Musiker, viel mit Lebenslust zu tun. Er hat sich einen Konzertflügel auf Kredit gekauft und die Sicherheit seines Beamtenstatus gekündigt. Nimmt sich Zeit, mit seinem Sohn zum Fußballtraining zu gehen und entschuldigt sich auch schon einmal, obwohl er sich im Recht sieht. Er hat keine Vollmachten ausgefüllt, keine Testamente mit seiner Frau aufgesetzt. Nicht auf ein perfektes Sterben wollte er sich vorbereiten, sondern jetzt und hier gut leben:
Pfarrer Heiko Bräuning:
Ganz arg wichtig ist das, wofür ich eine Leidenschaft hab‘, wofür in mir ein Feuer brennt, wofür ich alles dafür geben würde, ja. Die Zuwendung, die Zeit mit meiner Familie, meinen Kindern, hat nichts mit Pflichten zu tun, sondern da hab ich einfach eine Riesenlust drauf. Und ich wollte zur Lust kommen. Also wenn carpe diem, dann nicht aus Pflichtgefühlen heraus, sondern um die wertvolle Lebenszeit mit dem zu füllen, was mich wirklich glücklich macht. Und ich sag es ganz bewusst, was mich glücklich macht, weil ich die Überzeugung gewonnen habe durch dieses deadline-Experiment: Nur wenn ich selber glücklich bin kann ich andere glücklich machen.
Doch frei von Risiko und Sorge ist auch das Deadline-Experiment nicht:
Pfarrer Heiko Bräuning:
Ich wusste überhaupt nicht, was mich erwartet. Ich hab zwischendurch ja immer wieder, nachdem ich mir diese Deadline gesetzt hab, schon auch so ein Damoklesschwert über mir gehabt. Menschen haben mir immer wieder gesagt, da passiert doch gar nichts, wenn man sich so ein fiktives Sterbedatum setzt, aber keiner von denen hat mir garantieren können, dass an diesem 16.4.2016 nicht doch etwas passiert. Weil es eben keiner von uns in der Hand hat, ob man stirbt oder nicht stirbt. Insofern nicht nur Spielerei mit dem Tod sondern auch die Angst hat sich schon ab und zu wirklich breit gemacht. Ich hatte den Termin ja in meinen Terminkalender eingeschrieben, ich hab so einen Mehrjahreskalender, da stand er eben drin, fett markiert mit Edding und mit Textmarker drüber, er war nicht mehr aus dem Sinn zu kriegen.
Vier Jahre im Angesicht des eigenen, fiktiven Todes – für Heiko Bräuning waren sie ein Lebenstraining. Mit bleibendem Erfolg:
Pfarrer Heiko Bräuning:
Ich wollt ja nur klug werden. Ich wollte weder perfekt sterben noch perfekt leben. Sondern es hat sich im Lauf der Zeit gezeigt, dass klug werden heißt, ganz banal ausgedrückt, ein Stück weit glücklicher zu leben, weil man Entscheidungen trifft und die nicht mehr auf die lange Bank schiebt, wenn man mit sich selber ein Stück weit ins Reine kommt, weil man merkt, was einem wirklich wichtig ist, was man wirklich kann und was man alles nicht können muss, was man alles nicht haben muss, dankbar zu werden für das was man hat… Und in diesem Klug Werden hat es unwahrscheinlich viel Platz für Fehler, für Misslungenes, für nicht Geschafftes, weil man – so ging es mir jedenfalls – irgendwie einen tieferen Zugang zum einen zum Loslassen bekommen hat, ja, fünf gerade sein lassen, aber auch mal mit einer Sache abschließen zu können... Da hat sich eine neue Lebenseinstellung breit gemacht, die was mit Dankbarkeit zu tun hat. Jetzt ist es nicht mehr Lebenszeit, die verrinnt – sondern es ist geschenkte Lebenszeit.
Darf man das – tanzen mit dem Tod? Nicht nur Heiko Bräuning selbst hat sich diese Frage während seines Deadline-Experiments gestellt. Er antwortet darauf in der Turmhalle der Berliner Marienkirche, da, wo es der Tod ist, der zum Tanz und zum guten Leben herausfordert.
Pfarrer Heiko Bräuning:
Heute würde ich sagen, nachdem ich diesen Totentanz kennengelernt habe: Es war ein bisschen Tanzen mit dem eigenen Tod, sich vorzustellen, wie das Sterben ist. Aber auch den Tod einfach ins Leben einzuladen, mit ihm eine Wegstrecke zu gehen und dadurch sich ganz neu auszurichten im Leben. Es ist unser absolut gutes Recht von Christus her mit dem Tod so leichtfüßig umzugehen, so leicht umzugehen, weil er das Schwere verloren hat, das gefällt mir an dem Totentanz hier so gut, der Tod ist nichts Belastendes, er lädt zum Tanzen ein, ja, das ist das fröhlichste Fest, das Menschen feiern: zum Tod tanzen, mit dem Tod tanzen. Fantastisch.
Weitere Informationen:
Das Deadline-Experiment: www.deadline-experiment.de
Der Berliner Totentanz in St. Marien: http://marienkirche-berlin.de/kirchen/st-marienkirche/totentanz/
Musik dieser Sendung:
Danse macabre op.40, Camille Saint-Saëns, Philharmonia Orchestra London, Der Karneval der Tiere/Phaeton/Le Rouet d'Omphale/Danse macabre