Gemeinfrei via unsplash / Greg Rakozy
Zeit ist relativ
15 Minuten über eine physikalische und theologische Größe
05.03.2023 07:35
Sendung nachlesen:

Wir sitzen beim gemeinsamen Frühstück, die Astrophysikerin und ich. Es ist gerade einmal halb Neun und unser Gespräch ist schon bei Einsteins Relativitätstheorie angelangt.
„Zeit kann stehen bleiben.“, fasst die Astrophysikerin zusammen und pustet dann gelassen über ihren Tee. Als wäre an dieser Aussage nichts besonders. Ich bin aber Theologin, keine Astrophysikerin, und für mich ist diese Feststellung unglaublich und unverständlich.

Ich fange beim Unverständlichen an: Was heißt das, Zeit kann stehen bleiben? Sie erklärt. Je schneller eine Sache sich bewegt, desto langsamer vergeht für sie die Zeit. Allerdings mache keine der Geschwindigkeiten, die wir Menschen bislang erreichen können, einen relevanten Unterschied.
Nehmen wir an, sagt sie, ich starte hier aus deiner Küche heraus mit einer Rakete und verabrede mit dir, dass wir uns in genau zehn Jahren hier wieder zum Frühstücken treffen. Ich hätte natürlich eine sehr genaue Uhr dabei und würde pünktlich auf die Sekunde nach zehn Jahren wieder hier landen. Dann würdest du aber schon ungeduldig hier stehen, auf deine ebenfalls sehr genaue Uhr sehen und mir verkünden, ich sei zu spät. Wir hätten beide Recht. Für mich wären genau zehn Jahre herum, während für dich schon zehn Jahre und ein paar Minuten vergangen wären. Weil ich in meiner Rakete mit höherer Geschwindigkeit unterwegs war als du, ist meine Zeit langsamer gelaufen als deine.
Sie nimmt einen Schluck Tee und erklärt weiter, dass es eigentlich erst richtig interessant wird, wenn sich eine Sache mit mindestens halber Lichtgeschwindigkeit bewegt. Dann läge die Verspätung zum Raketenfrühstück nicht nur bei wenigen Minuten, sondern bei einem Jahr und dreieinhalb Monaten.
Und würde sie ihre Rakete auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen, sähe es für mich in dieser Küche so aus, als würde in der Rakete die Zeit stehen bleiben. Sie käme nie wieder an.

Irgendwie unheimlich. Ich werfe noch zwei Scheiben Brot in den Toaster und versuche, mir das vorzustellen. Wenn die Zeit stehen bleibt, sieht das in meinem Kopf so aus, als hätte jemand die „Stopp“-Taste für den Lauf der Welt gedrückt. Alles wird eingefroren. Das wäre schon erstaunlich genug, tatsächlich ist es jedoch noch seltsamer: die Zeit bleibt nur aus bestimmten Perspektiven stehen. Für den, der sie erlebt, läuft sie immer normal weiter. 
Wenn der Toaster hier mein Brot mit Lichtgeschwindigkeit ins All schießen würde: für das Toastbrot würde die Zeit normal weiterlaufen. Für mich hier am Toaster würde es aber so aussehen, als wäre die Zeit auf dem Toast stehen geblieben. Das ist für mich schwerer vorstellbar als jede Science-Fiction-Story.

Die Physikerin gießt sich Tee nach und sagt, dass sie sich das auch nicht wirklich vorstellen kann. Und trotzdem sei es richtig. Das sei eben Relativität. Zeit laufe nicht überall gleich, sondern sei abhängig von der Geschwindigkeit.
Ich bin froh, dass das Brot in gesittet normaler Geschwindigkeit aus dem Toaster hüpft.

Neben der Geschwindigkeit gibt es noch einen zweiten Einflussfaktor: die Gravitation, die Schwerkraft, fährt die Astrophysikerin fort. Sie überlegt kurz und erzählt dann eine Szene aus dem Film Interstellar, die diesen Effekt der Relativität beschreibt. In all seiner Drastik:

Vier Astronaut:innen untersuchen in der Szene einen unbekannten Planeten. Drei landen auf dem Planeten, der vierte Astronaut bleibt im Raumschiff. Der Planet ist extrem starker Gravitation ausgesetzt. Die vier wissen, was das heißt: Mehr Gravitation, das heißt, die Zeit vergeht auf dem Planeten langsamer als im Raumschiff. Könnte der im Raumschiff zurückgebliebene Astronaut die drei auf dem Planeten beobachten: für ihn würden sie sich in Zeitlupe bewegen. Sie beeilen sich deshalb und verlassen den Planeten schon nach drei Stunden wieder. Als sie zurückkommen, öffnet ihnen ein gealterter, leiser Mann die Tür. Sie fragen, wie lange sie weg waren. Er gibt die erschreckende Antwort: 23 Jahre.

Es ist nur eine Filmszene. Science-fiction, unglaublich. Trotzdem physikalisch völlig korrekt. Trotzdem fremd für mein Denken. Ich lebe doch schon eine Weile in dieser Welt und dennoch gibt es Dinge, die kommen unerwartet bei einem Frühstück um die Ecke und überwältigen mich.
Mit der Zeit konnte ich immer rechnen. Eine Grundkonstante. Auf einmal scheint sie nicht mehr sehr konstant. Meine Annahmen über die Welt werden bei diesem Frühstück durcheinander geschüttelt.

Im Buch Kohelet in der Bibel heißt es: Der Mensch kann nicht durchschauen das Werk, das Gott tut. Weder, wo es beginnt noch wo es endet. Das ist mir selten so klar geworden wie in diesem Gespräch mit der Astrophysikerin. Dass Zeit nicht überall gleich läuft, ist eine Vorstellung, die ich mir schlicht nicht vorstellen kann.
Zeit lässt mich Staunen. Ungläubig Staunen.


 „Wie lang dauert die Ewigkeit?“, fragt der König den Hirtenbuben. Der antwortet und erzählt eine Geschichte:
In Hinterpommern liegt der Demantberg, der hat eine Stunde in die Höhe, eine Stunde in die Breite und eine Stunde in die Tiefe; dahin kommt alle hundert Jahr ein Vöglein und wetzt sein Schnäbelein daran, und wenn der ganze Berg abgewetzt ist, dann ist die erste Sekunde von der Ewigkeit vorbei.

Der König ist mit dieser Antwort zufrieden und gibt dem Hirtenbuben, wenn man den Gebrüdern Grimm glauben darf, zur Belohnung seine Tochter zur Frau. Dass die Tochter hierbei nicht um ihre Meinung gefragt wird, will ich hier einmal ignorieren. Aber angenommen, sie liest in der Bibel. Dann würde sie ihrem neuen Ehemann und seinen Ansichten über die Ewigkeit vielleicht widersprechen.
„Wie lang dauert denn die Ewigkeit deiner Meinung nach?“, fragt also der Hirtenbub die Königstochter. Die antwortet und erzählt ihm eine andere Geschichte:
In Hinterpommern liegt der Demantberg. Doch noch bevor der Demantberg da war, ja sogar noch bevor irgendwelche „Berge erschaffen wurden und bevor Gott die Erde und das Weltall schuf, vor all dem war Gott schon da, von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Ps 90,2).

Der Hirtenbub ist mit dieser Antwort nicht zufrieden, deshalb fährt sie fort:
„‚Wie lange dauert die Ewigkeit?‘ Die Frage ist schon falsch. Denn die Ewigkeit ‚dauert‘ gar nicht. Deine Geschichte ist schön, aber was sie beschreibt ist nicht die Ewigkeit, sondern die Unendlichkeit.“

Unendlichkeit und Ewigkeit, das ist nicht das Gleiche. Auf Grabsteinen liest man, dass Verstorbenen die „ewige Ruhe“ gewünscht wird. Nie aber würde man auf die Idee kommen, ihnen „unendliche Ruhe“ zu wünschen. Wo also liegt der Unterschied?
Unendlichkeit heißt schlicht: ohne Ende. Unendlichkeit ist eine physikalische und mathematische Größe. Mit ihr kann man rechnen. Jedenfalls die Astrophysikerin bei mir am Küchentisch. So seltsam es klingt, aber mathematisch gesehen gibt es unendlich viele Unendlichkeiten. Man kann sie addieren und voneinander abziehen, man kann sie unendlich wachsen lassen oder in den kleinen Raum zwischen Null und Eins stopfen.
Mit der Ewigkeit ist das anders. Ewigkeit ist keine Rechengröße, sie erscheint in keiner mathematischen Formel. Auch Ewigkeit heißt: ohne Ende. Aber Ewigkeit heißt noch mehr als das. Ewigkeit heißt auch: ohne Anfang. Und vor allem: Ewigkeit ist göttlich. Wer „ewige Ruhe“ wünscht, wünscht, dass die verstorbene Person nah bei Gott ist.

Noch bevor die Berge erschaffen wurden, bevor du die Erde und das Weltall schufst, warst du Gott da, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
So hat es die Königstochter in Psalm 90 gelesen.
Gott schuf die Zeit, die Zahlen, die Unendlichkeiten, die Augenblicke, die Monate. Die Ewigkeit aber war schon vor der Schöpfung da, denn Gott war da und wo Gott ist, ist er „in Ewigkeit“. Die Ewigkeit ist Gotteszeit. Und als Gotteszeit umfasst die Ewigkeit den kürzesten Augenblick genauso wie die Unendlichkeit. Sie umfasst alle Zeit, aber sie unterliegt ihr nicht. Die Ewigkeit läuft nicht ab, sie ‚dauert‘ nicht.

Das alles würde die Königstochter sagen. Und der Hirtenbub würde staunen: Wie kann die Ewigkeit die Unendlichkeit umfassen? Also etwas, das kein Ende hat?
Das begreifen zu wollen, scheint so aussichtslos wie der Versuch, Steinchen ins Universum zu werfen um dort die Wellenkreise zu beobachten, die sich ausbreiten. Ich kann keine Wellenkreise erkennen, sie verschwinden irgendwo im unendlichen Dunkel, da hinten, wo selbst die NASA nichts mehr sehen kann. Warum interessiert mich das Ganze dann aber trotzdem?

Der Mensch kann nicht durchschauen das Werk, das Gott tut. Weder wo es beginnt, noch wo es endet. Doch Gott hat die Ewigkeit in das Herz der Menschen gelegt. (Nach Koh 3,11)

Die Ewigkeit wurde uns Menschen ins Herz gelegt. So steht es im Buch Kohelet. Gott hat uns eine leise Ahnung von ihr gegeben. Gerade so viel, dass ich trotz allem Unverständnis Lust habe, über den Rand der Zeit zu spähen. Bei dem Versuch kann einem schwindlig werden. Mal wie ein Schaudern, mal wie ein beschwipstes Schwindeln vor der Größe der Ewigkeit.
Zeit lässt mich Staunen. Ungläubig, vertrauensvoll Staunen.


In die Küche scheint die Sonne. Die Astrophysikerin und ich haben unsere Stühle zum Fenster gedreht und halten ihr das Gesicht entgegen. Warum es eigentlich gleich die Ewigkeit sein muss, fragt die Astrophysikerin mit geschlossenen Augen. Die Sekunde sei mindestens so geheimnisvoll.
Wie lang dauert eine Sekunde? Fragt sie. Ich blinzele durch das Licht zur Uhr: Eins – Zwei – Drei – Vier.
Sie schüttelt unzufrieden den Kopf. Bis 1967 seien Sekunden Sonnensekunden gewesen. Ihre Länge wurde bestimmt indem man die Länge eines Tages durch 24, durch 60 und noch einmal durch 60 teilte. Eine Sekunde war demnach das 86.400tel eines Tages. Heute seien Sekunden Atomsekunden und würden über die Schwingungen des Cäsium-Atoms bestimmt. Das sei genauer. Irgendwie aber auch unromantischer.

Vielleicht ist das typisch Theologin, aber ich denke, das ist nur die halbe Wahrheit. Wie lang dauert eine Sekunde? Mag sein 9 191 631 770 Schwingungen eines Cäsium-Atoms - einerseits. Andererseits: mal ewig, mal nur kurz.
Das ist das subjektive Zeitparadoxon: die Sekunden im Wartezimmer vergehen langsamer als auf einem guten Konzert. Im Rückblick ist es aber genau andersherum: Die Zeit im Wartezimmer wirkt kurz, das Konzert füllt in der Erinnerung dagegen viele Stunden. Gefühlte und erinnerte Sekunden sind nicht gleich lang.

Dieser Morgen hat noch viele Sekunden. Ich könnte der Astrophysikerin und mir noch eine Kanne Tee aufkochen. Ich könnte das Radio anschalten, gleich kommt die Presseschau. Ich kann das tun, weil in dieser Welt die Zeit für alle gleich verläuft.
Gott hat den Fisch ins Wasser gesetzt, den Vogel in den Himmel und den Menschen in die Zeit.
In eine menschliche Zeit, die wir uns zu eigen machen dürfen.
In eine physikalische Zeit, die ich ehrfürchtig bestaune.
In Gottes Ewigkeit, die uns und jede Zeit trägt.

Der Mensch kann nicht durchschauen das Werk, das Gott tut. Weder wo es beginnt, noch wo es endet. Doch Gott hat die Ewigkeit in das Herz der Menschen gelegt und alles schön gemacht, ein jedes zu seiner Zeit.   (Nach Koh 3,11)

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Electric Time Orchestra: Here ist he News, CD-Titel: Time, Track Nr. 10.
  2. Electric Time Orchestra: Rain is Falling, CD-Titel: Time, Track Nr. 07.
  3. Electric Time Orchestra: Prologue, CD-Titel: Time, Track Nr. 01.

Literaturangaben:
Kinder- und Hausmärchen: Das Hirtenbüblein (Brüder Grimm), 7. Auflage, KHM 152.

Vielen Dank
an die Astrophysikerin Christine Freitag für alle geduldigen Erklärungen und das fachliche Korrekturlesen!