Sendung nachlesen:
"Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum heute für uns eigentlich ist.
Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte - seien es theologische oder fromme Worte - sagen konnte, ist vorüber;
ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und d.h. eben die Zeit der Religion überhaupt.
…
Wenn also die Menschen wirklich radikal religionslos werden und ich glaube, dass das mehr oder weniger bereits der Fall ist, was bedeutet das dann für das "Christentum"?
Was bedeutet eine Kirche, eine Gemeinde, eine Predigt, eine Liturgie,
ein christliches Leben in einer religionslosen Welt?"
Mit diesen Fragen mischte Dietrich Bonhoeffer nach seinem Tode die theologische Welt auf. Bonhoeffers Versuch über ein "religionsloses Christentum" scheint auch mit persönlichen Erfahrungen zusammen zu hängen.
Er fragt sich,
"warum mich ein christlicher Instinkt häufig mehr zu den Religionslosen
als zu den Religiösen zieht,
und zwar durchaus nicht in der Absicht der Missionierung,
sondern ich möchte fast sagen brüderlich!
Während ich mich den Religiösen gegenüber oft scheue,
den Namen Gottes zu nennen,
- weil er mir hier irgendwie falsch zu klingen scheint
und ich mir selbst etwas unehrlich vorkomme
(besonders schlimm ist es, wenn die anderen
in religiöser Terminologie zu reden anfangen,
dann verstumme ich fast völlig und es wird mir irgendwie
schwül und unbehaglich) -,
kann ich den Religionslosen gegenüber gelegentlich ganz ruhig
und wie selbstverständlich Gott nennen."
Mit diesen Fragen und Bekenntnissen hat Bonhoeffer die theologische Welt aufgemischt.
Seine Idee eines religionslosen Christentums wurde Jahrzehnte lang diskutiert.
Und bis heute durchaus kontrovers!
Gleichzeitig macht es "nachdenklich, dass Bonhoeffer seine offensichtlich breiteste und nachhaltigste Wirkung durch sein Gedicht von den guten Mächten erlangte." (1)
Ich dachte lange, das sei ein Widerspruch.
Heute glaube ich: beides gehört zusammen.
Von guten Mächten, nicht von schlechten, nicht von schlechten Schlächtermächten, nein von guten, treu und still geborgen.
Und getröstet und behütet. Wunderbar. So will ich leben. So.
So will ich mit euch gehen.
Von guten Mächten.
Diese drei Worte bringen vieles zum Schwingen:
Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, Menschen, Orte. …
Es kleben Erfahrungen an diesem Text.
Während Bonhoeffer Ende 1944 "Von guten Mächten" schreibt, sitzt er im Kellergefängnis der Gestapo.
Wer sind dort die guten Mächte, die ihn "treu und still" umgeben?
Die ihn behüten und trösten?
…
An seine Verlobte Maria von Wedemeyer schreibt er kurz vor Weihnachten 1944:
"Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen.
So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt.
Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde […] seid mir immer ganz gegenwärtig." (2)
Inwiefern gegenwärtig?
"Eure Gebete und gute Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat."
Wer sind die guten Mächte?
Gott … - offensichtlich nicht.
Auch keine Engel im landläufigen Sinn.
Wer sind sie dann - die guten Mächte?
Bonhoeffer beschreibt sie als ein Reich, das unsichtbar ist, aber real.
Es besteht aus Gebeten, guten Gedanken, Bibelworten, längst vergangenen Gesprächen und Büchern.
Die guten Mächte sind also Worte, gesprochene, gebetete, gelesene, gehörte Worte. Und Musik! Musik, die er im Kopf hat, die er – stell‘ ich mir vor -
auch gesummt oder gesungen hat.
…
Spannend finde ich, was Bonhoeffer in sich spürt: die Seele bildet in der Einsamkeit Organe aus, die man im Alltag kaum kennt.
Er nimmt etwas wahr, was im eng getakteten Alltag gern übersehen wird.
Und überhört: die guten Mächte!
Zurzeit sind viele Menschen zum Alleinsein gezwungen.
Und grade jene sollen nicht besucht werden, die Besuch besonders nötig haben:
alte Eltern und Großeltern.
Wie gut, wenn die Seele dann "Organe" ausbildet, die jene guten Mächte wahrnehmen, die behütet leben lassen.
Und getröstet.
Ich mag allein sein, aber doch keinen Augenblick einsam und verlassen.
Es gibt Menschen, die für mich beten.
Und am Telefon höre ich auch gute Gedanken, nicht allein Panik und Angst.
Es gibt Bibelworte, die mich ein Leben lang begleitet haben.
Und längst vergangene Gespräche, an die ich mich gern erinnere.
Mit Musik und manchen Büchern ist‘s ganz ähnlich.
All das bekommt in einer Krise, die allein sein lässt, Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor.
"Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last,
ach Herr, gib unsern aufgescheuchten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast."
Im alten Jahr, also 1944, scheiterte das Attentat auf Hitler.
An den Umsturzplänen war Bonhoeffer beteiligt.
Er arbeitete bei der deutschen Abwehr unter Admiral Canaris, der wie Bonhoeffer am 9. April 45 gehängt wurde.
Interessant ist, wie Bonhoeffer hier betet: um nichts Bestimmtes, sagen wir um die Freilassung oder um ein Wunder.
Er bittet um das Heil, das dieses große Du ihm bereitet hat.
In seinem Gedicht "Wer bin ich?" macht er das ganz ähnlich.
Dort lässt er die Frage nach seiner Identität offen:
"Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott."
Diese Gebetshaltung erinnert an Gethsemane, wo Jesus betet:
"Vater, wenn es möglich ist, so lass diesen Kelch an mir vorüber gehen;
doch nicht wie ich will, sondern wie du willst."
Das Bild vom Kelch aus der Gethsemane-Geschichte wird Bonhoeffer erst in der dritten Strophe übernehmen.
Hier dichtet er:
"Ach Herr, gib unsern aufgescheuchten Seelen das Heil, für das Du uns bereitet hast."
Und da gibt es in seiner historischen Situation zwei Möglichkeiten. Zunächst die eine:
"Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus Deiner guten und geliebten Hand."
Der schwere Kelch, der bittere:
Mitgefangene haben später erklärt, der SS-Lagerarzt in Flossenbürg, der Bonhoeffer vor seiner Hinrichtung untersucht hatte, habe diese Hinrichtung geschönt.
Der Arzt behauptete, er habe Bonhoeffer vor der Hinrichtung beten gesehen, und - so wörtlich - "die hingebungsvolle und erhörungsgewisse Art […] dieses außerordentlich sympathischen Mannes" habe ihn auf das Tiefste erschüttert. Bonhoeffer habe mutig und gefasst die Treppe zum Galgen bestiegen. Und der Tod sei nach wenigen Sekunden erfolgt, behauptet der Arzt. In seiner fast 50jährigen ärztlichen Tätigkeit habe er kaum je einen Mann so gottergeben sterben sehen.
Mit dieser erbaulichen Darstellung des SS-Lagerarztes bin ich groß geworden. Sie ist jedoch frei erfunden, eine Art Heiligenlegende. Der dänische Mitgefangene Jörgen Mogensen ist sich sicher, dass die Hinrichtung von Bonhoeffer "ungewöhnlich lange" dauerte, "etwa von 6 Uhr früh bis gegen Mittag." (3)
Und anders als im Spielfilm "Die letzte Stufe" gab es in Flossenbürg auch keinen Galgen und keine Treppe, die dorthin führte.
Das Todesurteil wie das Gerichtsverfahren gegen Bonhoeffer galt bis in unsre Tage als ordnungsgemäß. Und Bonhoeffer damit als Verbrecher.
Endgültig wurden erst 2009 die Todesurteile gegen Bonhoeffer und die anderen Widerstandskämpfer vom Deutschen Bundestag für nichtig erklärt.
…
"Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids,
gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn."
…
Nicht als letztes Wort der Henker.
"So nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus Deiner guten und geliebten Hand."
Nicht aus der Hand des Henkers, aus Gottes Hand wollte er den Tod nehmen. Die andere Möglichkeit, die nicht eingetroffen ist, verdichtet Bonhoeffer in zwei Strophen:
"Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.
Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht."
Nach allem, was wir wissen, neigte Bonhoeffer zur Melancholie, was er aber nur seinen besten Freund wissen ließ.
"Führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen."
Das gilt vor allem seiner Verlobten Maria von Wedemeyer und seinen Eltern.
Trotz mancher asketischen Züge in seiner Theologie war Bonhoeffer alles andere als ein Verächter des Lebens. Er hatte Freude an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz: Er war ein begnadeter Klavierspieler, liebte es, zu reisen, zu tanzen und zu rauchen, gut zu essen und zu trinken.
In einem Brief aus dem Jahre 1943 schreibt er:
"Um es deutlich zu sagen: dass ein Mensch in den Armen seiner Frau sich nach dem Jenseits sehnen soll, das ist milde gesagt eine Geschmacklosigkeit und jedenfalls nicht Gottes Wille. Man soll Gott in dem finden und lieben, was er uns gerade gibt; wenn es Gott gefällt, uns ein überwältigendes irdisches Glück genießen zu lassen, dann soll man nicht frömmer sein als Gott und dieses Glück durch übermütige Gedanken und Herausforderungen … wurmstichig werden lassen." (4)
Das Glück wurmstichig werden lassen - diese verdammte Kunst beherrschen gute Protestanten normalerweise. Bonhoeffer sagt: ich nehme das Glück an, wenn es mir geschenkt wird. Ohne das Haar in der Suppe zu suchen.
Und: ich nehme den Tod an, aber erst, wenn es sein muss.
"Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang."
Das ist vielleicht die geheimnisvollste Strophe.
Die Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, scheint der Gesang der weltweiten Ökumene zu sein, der Gesang aller Christen auf der Erde, nicht allein der deutschen, auch nicht der britischen oder amerikanischen, mit denen Deutschland damals Krieg führte.
Bonhoeffer war einer der Vordenker der weltweiten Ökumene, die es in Form des Weltkirchenrats dann erst 1948 gab.
"Bonhoeffer scheint von Anfang an ein geborener Anhänger der Ökumene gewesen zu sein."
Bereits als Studienanfänger hat er Rom besucht. Und den Katholizismus als einzige Welt-Kirche lieben gelernt.
Sein Vikariat macht er in Barcelona.
Und von 1933 bis 35 hat er eine Auslandspfarrstelle in London inne.
1934 nimmt er auf einer Ökumenischen Jugendkonferenz in Dänemark teil.
Dort sagt er in einem Vortrag:
"Wie wird Friede?
Wer ruft zum Frieden, dass diese Welt es hört, zu hören gezwungen ist? […]
Nur das Eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss und dass die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt."
1938 besucht er die USA, um dort zu lehren und zu lernen. Und das alles zu einer Zeit, als man nicht in 9 Stunden nach New York fliegen konnte.
Bonhoeffers letzte Botschaft ist eine Nachricht an George Bell, seinen Freund, den Bischof von Chichester. Vor seinem Abtransport ins KZ bittet er ihn:
"Sagen Sie ihm, dass dies für mich das Ende, aber auch der Anfang ist.
Mit ihm glaube ich an das Prinzip unserer universellen christlichen Brüderlichkeit, die über alle nationalen Interessen hinausgeht, und dass unser Sieg sicher ist."
Der volle Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, das ist der Lobgesang aller Christen auf der Erde, der römisch-katholischen, der schwarzen Kirchen in den USA oder der anglikanischen in Großbritannien.
Dort, in der weltweiten Kirche fühlt er sich zu Hause. Und aufgehoben. Die internationale christliche Gemeinschaft gehört zu den guten Mächten, die ihn wunderbar geborgen sein lassen.
"Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag."
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
Torsten Harder, Cello. Auftragsarbeit für die Evangelische Rundfunkarbeit, Rechte liegen vor.
Literaturangaben:
- Heino Falcke, in: Publik-Forum Dossier "Dietrich Bonhoeffer", März 2005, IV
- Dietrich Bonhoeffer, Maria von Wedemeyer, Brautbriefe Zelle 92, München, 1994, 208
- Rainer Mayer, Peter Zimmerling, Dietrich Bonhoeffer, Mensch hinter Mauern
- Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 1959, 123