Wort zum Tage
Mauern überwinden
09.11.2015 05:23

Fast täglich gehe ich an der Skulptur vorbei. Meist gebe ich kaum auf sie Acht. Doch manchmal bleibe ich stehen und lasse mich berühren von der Figur. Schlank, ja mager ist der Körper des Mannes. Er versucht über eine Mauer zu klettern. Seine rechte Hand umklammert schon fast die andere Seite. Doch seine linke droht abzurutschen. In dem Körper ist noch eine letzte Kraft zu erkennen, ein letzter Wille, sich hochzuziehen und die Mauer zu überwinden. Doch seine kraftlosen Beine und sein gesenkter Kopf zeigen mir: Er wird es nicht schaffen.

„Leid an der Mauer“ heißt diese Skulptur. Sie wurde vor fünfzig Jahren vor dem Gemeindehaus der Matthäuskirche in Berlin-Steglitz aufgestellt. Vier Jahre nach dem Bau der Mauer sollte sie den Menschen zeigen, welches Leid dieser Schreckensbau hervorbringt: Die Sehnsucht nach Freiheit mussten viele mit dem Leben bezahlen.

Heute vor 26 Jahren, am 9. November 1989, gab es ganz andere Bilder: Jugendliche tanzen ausgelassen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Fremde Menschen umarmen sich und haben Tränen in den Augen. Andere singen: „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Man könnte die ganze Welt umarmen. Das Bauwerk der Angst und des Todes hat seinen Schrecken verloren. Das Leid an der Mauer ist hier ein für allemal beendet.

„Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“. Dieser Vers aus einem Psalm war die biblische Losung am 9. November 1989. Ich staune. Dieses Wort drückt für mich genau das Lebensgefühl von damals aus. Ja, wir können es schaffen, wir können Mauern überwinden. Wir lassen uns von diesem Bollwerk nicht mehr abschrecken und tanzen auf ihm herum. „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“

Vielleicht gehe ich deshalb jetzt häufig so achtlos an dieser Skulptur vorbei. Denn der Schrecken von damals ist überwunden. Und doch, gerade in den letzten Wochen, bleibe ich wieder öfter stehen und lasse mich berühren. Ich denke an die vielen Flüchtlinge. Sie müssen Zäune und Hindernisse überwinden, um Zuflucht zu finden vor Unfreiheit und Krieg. Manche kommen bei dieser Flucht ums Leben, weil ihre Kräfte nicht mehr ausreichen. Und ich denke, nie wieder soll es bei uns solche Mauern oder Zäune geben, die Menschen daran hindern, den Weg in die Freiheit zu suchen.

Ich will das Lebensgefühl von vor 26 Jahren nicht vergessen: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“

Davon will ich mich ermutigen lassen angesichts der vielen Menschen, die bei uns Zuflucht suchen. Und will auch ihnen dieses Gefühl gönnen.