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Es ist ein regnerischer Tag im Sommer. Ich fahre durch den Nordosten Frankreichs. Das Wetter passt zu meiner Stimmung.
Zwei Tage voller Schrecken liegen hinter mir. Genauer gesagt, zwei Tage der Begegnung mit den Schrecken, die vor über 100 Jahren stattgefunden haben. Ich habe die Schlachtfelder rund um Verdun besucht. Verdun – Sinnbild für die Sinnlosigkeit und Brutalität von Krieg und Gewalt. "Blutmühle von Verdun", so wurde die Schlacht hinterher genannt. Zehn Monate Granatenhagel prägt bis heute die Landschaft. Granattrichter, Schützengräben sind zu erkennen, klägliche Reste von Bauerndörfern, die dutzendmal wechselseitig erobert wurden. Jetzt ist nichts mehr. Das Beinhaus von Douaumont. Gebeine von 350.000 gefallenen Soldaten. "Gefallen". Was für ein Euphemismus für das Zerfetzen von menschlichen Körpern.
Die Bilder eines Besuchs - tief eingebrannt in meine Seele. Immer wieder denke ich daran zurück, wenn ich die Nachrichten vom Krieg in der Ukraine höre. Auch dort Kämpfe in den Schützengräben. Auch dort schon Hundertausende getöteter Menschen. Haben wir Menschen nicht dazu gelernt nach über 100 Jahren? Manche schon. Ich erinnere mich an meinen Aufenthalt in Reims, direkt nach den Erkundungen in Verdun. Eigentlich suchte ich eine Aufheiterung für meine Seele. Reims – die prachtvolle Kathedrale. Ich freute mich auf die träumerischen Glasfenster von Marc Chagall, auf den lächelnden Engel und: auf den Champagner.
Vielleicht lag es am Wetter, aber auf mich versprühte die Stadt einen seltsam spröden Charme. Von weitem sieht man die Silhouette der Kathedrale. Sie hebt sich von der übrigen Stadt wohltuend ab. Wir kommen an das Westportal. Es ist zum großen Teil eingerüstet. Restaurierungsarbeiten. Ein Hinweisschild gibt die Erläuterung: Reims wurde im Ersten Weltkrieg zu 60 Prozent zerstört. Auch die Kathedrale war betroffen. Neben dem Dach war besonders das Westportal der Kirche stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Erst jetzt, zur Zeit unseres Besuchs, wird eine Komplettrestaurierung durchgeführt. Also auch Reims – denke ich. Auch hier Zerstörung, auch hier Krieg. Doch dann entdecke ich eine Inschrift am Boden. An dieser Stelle haben Konrad Adenauer und Charles de Gaulle vor dem Erzbischof von Reims stellvertretend für ihre Völker verkündet, dass Franzosen und Deutsche sich versöhnt haben.
Liebe zwischen Feinden. Feindesliebe – sie ist möglich, denke ich. Gerade an den Stätten der Zerstörung. Wo sonst? Denn es geht ja um Feinde, die zu Freunden werden können. Ermuntert durch diesen Eindruck kann ich jetzt die Kathedrale genießen und später: den Champagner.
Es gilt das gesprochene Wort.