Wort zum Tage
Sichtbar werden und sehen
12.12.2015 05:23

Die Automatiktür gibt den Weg frei – und auch den Blick auf das Krankenhausfoyer. An der Rezeption fragt er nach der Zimmernummer und nennt den Namen seiner Mutter. Das riesige Gebäude zwingt ihn auf einen langen Weg, Fahrstuhl und Gänge und eine letzte Tür auf der richtigen Station. Lang genug also der Weg, um sich die Worte zurecht zu legen. Jahrelang war dem Sohn kein Weg zu weit, um Abstand zwischen sich und die Welt seiner Eltern zu bringen; hat er versucht, sich zu lösen aus diesem Gemisch von Wohlstand und kleiner Welt. Jahr für Jahr hat er sich Reiseziele ausgedacht, damit diese lästige Frage, kommst du Weihnachten?, endlich aufhörte. Und die kleine Welt ist irgendwie doch immer mitgereist. Er öffnet die Tür.

 

„Hallo Mama.“ Keine Antwort. Er scheint ihm, er sieht sie, wie er sie vorher nie sehen konnte. „Wie geht es dir? Wolltest du dir gerade die Schuhe anziehen? Ich kann dir helfen.“ – „Das mach‘ ich doch immer alleine!“, sagt sie – und wehrt mit einer schwachen Geste ab. „Will ja noch jemanden besuchen…“

Wen denn, fragt der Sohn behutsam zurück. „Na, Martha!“ Mama, flüstert der Sohn jetzt fast, sucht ihren Blick, schaut ihr offen in die Augen und streichelt ihre Hand. „Du bist Martha!“

Beginnt jetzt der Kampf um jeden noch so kleinen Erinnerungsfetzen? Beginnt jetzt der Wettlauf gegen die Zeit? Wir sind schon mittendrin – im Wettlauf. Und der Sohn ist klug und erfahren genug um zu wissen: Am Ende verlieren wir den. Am Ende verliert Martha sich.

Du bist Martha! Bist die Tochter, die viel zu kurz kam damals auf der Flucht. Die junge Frau, für die das Geld zum Studium nicht reichte. Du bist die Verlobte, die Ja sagte zu einem Mann, 20 Jahre älter und tief verstört; nicht nur von den Jahren der Kriegsgefangenschaft. Du bist die Übermutter, die mich auch mit 14 Jahren noch kaum allein aus dem Haus ließ.

Wieder und wieder hat er auf ihre Lebensstufen geschaut. Wer Martha wirklich auf all diesen Stufen ist, er weiß es bis heute kaum. Er fühlt, da bleibt etwas im Letzten fremd, ihm fremd. Aber es geht hier nicht um ihn, es geht um Martha.

Der Sohn ist auch erfahren genug, um die Perspektiven zu wechseln. Da ist Vertrauen genug um zu sagen: Da wird noch etwas aufgehen und sichtbar werden, vielleicht nicht vor meinen Augen und in meinem Herzen, aber vor Gottes Augen.

Wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht im Letzten ins Licht getreten, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es dazu kommen wird, dann werden wir ihm gleich sein; denn wir werden Gott sehen. Das ist unser Advent: wir werden. Und wir sehen, wie wir zuvor nie sehen konnten.

Sendungen von Pröpstin Christina-Maria Bammel