Halbfinale WM 2006, Deutschland gegen Italien, das Spiel hier in Dortmund. Auch bei uns in der Bahnhofsmission schauen wir das Spiel, zusammen mit Bahnkollegen und Gästen. In der Halbzeitpause kommt eine Frau in die Bahnhofsmission und erklärt, dass sie vor ihrem gewalttätigen Mann geflohen sei. Er würde Fußball schauen und sie sei aus dem Fenster geklettert. Sie habe nichts dabei und wüsste auch nicht wohin.
Nun ist der Fußball zweitrangig. Unsere Frau Schmidt kümmert sich. Mit dem Frauenhaus wird telefoniert, es ist voll. Mit der Frauenübernachtungsstelle wird gesprochen, dort ist ein Bett frei, sie kann kommen. Die Stadt ist im Ausnahmezustand wegen des Halbfinales. Jetzt zu Fuß durch die Stadt – das geht nicht. Also wird beratschlagt, dass aus Spendenmitteln ein Taxi finanziert wird. Alleine hat unsere Klientin Angst und ist unsicher. Frau Schmidt fährt mit und begleitet sie. Kurz vor Ende des Spiels ist sie zurück! Da ist es nach halb 10 am Abend. Was wäre gewesen, wenn es eine solche Einrichtung wie die Bahnhofsmission mit ihren Öffnungszeiten nicht gäbe?
So erzählt Axel Rolfsmeier, einer der Mitarbeitenden. Wer öfter mal mit der Bahn unterwegs ist, kennt es – das Schild mit Kreuz und gelbem Streifen auf blauem Grund: Nächste Hilfe: Bahnhofsmission. Kennt die Engagierten mit den blauen Westen, die sich um solche Notfälle kümmern, die Ältere oder Menschen mit Behinderung zum Zug bringen oder abholen. Bahnhofsmissionen gibt es seit 1894. Der Initiator, Johannes Burkhard, wollte vor allem jungen Frauen Schutz geben, die damals in die Städte strömten, um zu arbeiten. Im Laufe der Zeit haben sich die gesellschaftlichen Herausforderungen gewandelt. Aber eins ist geblieben, sagt Rolfsmeier:
Dass die Menschen dort Zeit haben und nicht nach Fachleistungsstunden mit Kostenträgern abrechnen müssen. Die Bahnhofsmission ist eine offene Anlaufstelle – offen für jeden. Sie ist da und zur Stelle „wenn das Leben entgleist“.
Und manchmal reicht eine Kleinigkeit: Kein Kleingeld für die Bahnhofstoilette? Gehen Sie doch einfach die Treppe hoch zur Bahnhofsmission, sagt mir die Frau am Kiosk. Da kriegen Sie sogar kostenlos einen Kaffee und können mal eben auftanken!
Orte zum Auftanken – in unserer mobilen Gesellschaft sind sie wichtig. Wieder Boden unter den Füßen zu spüren, sich zu „verorten“ ist wieder ein Bedürfnis. Plätze zu finden, wo man einmal nichts leisten, nichts darstellen muss – und keine Kreditkarte in den Scanner schieben soll. Der Verein „Andere Zeiten“ hat nun eine App mit „Anderen Orten“ erstellt - mit Orten, die den Nutzern Erfahrungen von Ruhe, Trost – und Spiritualität ermöglichen. In Soziologie und Theologie spricht man inzwischen vom „Spatial Turn“ – der Raum wird neu entdeckt. Nicht nur als physischer Ort, sondern auch als Lebens- und Sinnzusammenhang. Eine Lichtung im Wald, eine alte Kapelle – auch die Bahnhofsmission kann so ein anderer Ort sein. Oder der Raum der Stille in einem Krankenhaus. In den letzten 20 Jahren habe ich viele davon entdeckt.
Es fing an mit dem alten Gartenhäuschen in Kaiserswerth, wo Theodor und Friederike Fliedner 1832 zwei strafentlassene junge Frauen aufnahmen. Das war die Wurzel der Diakonissenanstalt, die sich bald schon weltweit ausbreitete. Immer wieder besuchen Gruppen das Gartenhäuschen und den Diakonissenfriedhof, das Mutterhaus und das Torhäuschen mit dem kleinen Laden „Eigenart“. Das sind Pilgerreisen – für viele sind diese diakonischen Einrichtungen heilige Orte.
Seitdem interessiert mich der spirituelle Aspekt an solchen Orten ganz besonders. Sie verkörpern Gemeinschaftserfahrung, sie bieten Schutz und Heilung. Diakonie ist ja weit mehr als eine Dienstleistung. Damit Menschen heil werden können, durchatmen und neue Kraft tanken, spielt auch die Umgebung eine Rolle. Die alten Stiftungen wie Bethel oder das Rauhe Haus haben wunderbare Parks. Und die alten Krankenhäuser mit ihren Spitzbögen sahen ein bisschen aus wie Kirchen – vielleicht eine Erinnerung an die mittelalterlichen Klöster, wo die Kranken zuerst gepflegt wurden.
Eine Zeitlang habe ich gedacht, dass diese Welt vergeht. Die großen Heime wurden aufgelöst, die Krankenhäuser brauchen vor allem gute Technik, die Kirchen füllen sich nicht mehr. Aber noch immer ist die Ausstrahlung der Räume wichtig – der Sternenflur im Kinderhospiz, der Labyrinthgarten im Bildungshaus oder der gedeckte Tisch, der alle einlädt.
Für Gabriele Oest, Seelsorgerin bei Diakovere in Hannover, ist Diakonie in der Hannah-Kapelle erfahrbar geworden:
„Dort habe ich einen großen Teil meiner Arbeitszeit verbracht: Habe Seminare, Gesprächskreise, Oasen- und Basteltage gestaltet; habe Räume eröffnet, die Geborgenheit und Sicherheit vermitteln, die Vertrauen und Offenheit ermöglichen. Dadurch konnten viele Patientinnen trotz ihrer Krebsdiagnose das innere Gleichgewicht wiederfinden. Patienten, die erstmals die Hannah-Kapelle betreten, sind ganz angetan von der Ruhe und der Freundlichkeit, von dem Geist in diesem Raum. Sie spüren: Hier darf ich mich zeigen, wie ich bin – mit meinen Ängsten und Sorgen, mit meiner Verzweiflung und Wut, mit meinen Tränen; aber auch mit meiner Freude und Hoffnung. Ein Ort, wo ich mir selbst und den anderen offen begegnen darf, der stärkt und zum Wiederkommen einlädt.
Und neben der Hannah-Kapelle gibt es hier viele andere spirituelle Orte wie den Salemsfriedhof, die Mutterhauskirche und die alte Blutbuche im Garten. Sie vermitteln einen Eindruck von vergangenen Tagen und wechselvollen Zeiten und von dem, wie es heute ist.“
Auch Rainer Adomat fasziniert der Gedanke, mit seiner Arbeit in einer schaffenden Generationenkette zu stehen. Er ist Leiter des Schäferhofs im Kreis Pinneberg.
In der Aura dieses Ortes meint man die langen Zeiträume zu spüren, in denen er wurde, was er ist. Viele Generationen haben mitgeholfen, die positive Ausstrahlung des Schäferhofs weiterzugeben und weiterzuentwickeln.
Der Schäferhof ist eine Einrichtung für wohnungslose Menschen. Und Adomat ist hier am richtigen Platz. Es liegt ihm am Herzen, dass Menschen Zugang zur Fülle des Lebens finden.
Als ich selbst in der Klinik war habe ich gemerkt, wie wichtig mir der Andachtsraum ist. Aber auch, wie wichtig Gestaltung und Ausstattung sind, um dort Kraft und Besinnung zu finden. Der Schäferhof in Appen hat so eine besondere Aura, hier bei uns sagt man, der Schäferhof sei ein Ort, den der Herrgott bei der Schöpfung besonders liebgehabt hat.
Die alten Parkanlagen, das Rosenbeet und die Blutbuchen - diese Schönheit und Fülle der Schöpfung habe ich auch in Kaiserswerth gefunden. Und auf dem Stiftungsgelände des Rauhen Hauses ist ein Teich am zentralen Ort. Claudia Rackwitz-Busse, ist Leiterin der Diakonengemeinschaft in der Hamburger Traditionseinrichtung:
„Regelmäßig begegnen sich hier die betreuten Menschen, die Mitarbeitenden, die Bewohnerinnen des Altenheims, Studierende der Hochschule. Sie staunen im Frühjahr über die ersten Entenküken, genießen, auf den Bänken sitzend, die Sonne und den Augenblick. Dieses Miteinander auf Augenhöhe gefällt mir ganz besonders.
Ich wäre nicht Rauhhäusler Diakonin, wenn ich nicht von den Kraftorten und Kraftworten Johann Hinrich Wicherns begeistert und motiviert wäre. Seine Entscheidung, vor über 180 Jahren, an die Orte zu gehen, an denen Not entsteht, war bahnbrechend. „Wenn die Leute nicht zur Kirche gehen, muss die Kirche zu den Leuten gehen”, war sein Motto. Er schuf Räume, in denen Menschen sich entwickeln konnten. Seine Worte aus dem Aufnahmeritual für die Kinder im Rauhen Haus berühren mich bis heute: „Du bist mit keiner Kette gebunden, nur mit einem, dem Band der Liebe…“ Menschen in ihrer Not ansehen, nicht von oben herab, sondern als die, die sie sind, als Geschöpfe Gottes. Daraus entsteht für mich spirituelle Kraft, die einen Ort hat.“
Als wir vor Jahren in der Kaiserswerther Diakonie auf der Suche nach spirituellen Orten waren, da haben wir die Kirchen und Kapellen, die Gemeinschaftsräume, Friedhöfe und Gärten besucht, um deren Atmosphäre aufzuspüren. Viele liebten die alten „durchbeteten Räume“ – aber sie wünschten sich Zeichen, dass jeder und jede hier willkommen ist: ein Weihwasserbecken am Eingang zum Beispiel, eine Ikone an der Kerzenwand, Sitzkissen und Matten für die Meditation, leise Musik. An vielen Stellen wird heute versucht, solche interreligiösen Räume zu gestalten, gerade auch in Schulen und Krankenhäusern. Schließlich arbeiten und lernen dort längst Menschen aus anderen Kulturen und Religionen. Aber bei der Gestaltung der Räume wird schnell spürbar, wie eng die Verbindung von sozialer Arbeit und christlichem Glauben bei uns ist. Bilder, Symbole, ja die Architektur weisen darauf hin. Wo gepflegt wird, finden sich Bilder vom Barmherzigen Samariter, wo Wohnungslose Hilfe finden, die Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstige tränken, Gefangene besuchen. Welche Worte und Zeichen aus anderen Kontexten könnten behutsam eingefügt werden? Diakonie geschieht heute auf dem Sozialmarkt, mitten in einer bunten Gesellschaft. Es wäre fatal, wenn die spirituelle Räume dabei verloren gehen.
Auch Friederike Weltzien hat Erfahrungen mit spirituellen Orten gesammelt, im Libanon und später als Gemeindepfarrerin in der Nähe von Stuttgart.
„Ein spiritueller Ort entsteht immer als Zwischenraum, ein Zwischenraum zwischen Menschen. Dort, wo sich so etwas wie ein seelisches Angesprochensein ereignet - in einem Kirchenraum, in einer Moschee oder einer Synagoge oder auch zum Beispiel an einem Baum oder vor einem Kunstwerk. All das kann für mich zum spirituellen Raum werden. Ein Raum, in dem Gottesbeziehung möglich wird.
Besonders spürbar wird die Diakonie aber in der Gemeindeküche. Im Herbst 2015 öffneten wir die Türen unserer Räume für Flüchtlinge, das größte Bedürfnis der Menschen war, selber Essen zu kochen, etwas, was sie kennen und was ihnen schmeckt. Also wurde jeden Dienstag für achtzig Leute gekocht. Die Hilfsbereitschaft war groß, aber in der Küche trafen die Kulturen aufeinander. Dinge veränderten sich, zunächst gab es viel Aufregung in der Gemeinde und auch Sorgen und Ängste. Aber gerade da entwickelten sich die intensivsten Kontakte auch ohne Sprachkenntnisse. Inzwischen ist es selbstverständlich geworden. Es wird immer noch regelmäßig syrisch gekocht und gemeinsam gefeiert und gegessen. Und da werden religiöse Themen ganz zwanglos miteinander diskutiert und besprochen und vor allem erlebt.“
Die Gemeindeküche als spiritueller Ort. Das Gemeindehaus als ein Platz, wo Menschen Zeit haben – offen für alle. Solche Orte folgen nicht den Regeln der ökonomischen Logik. Sie richten sich nicht nach vorgegebenem Hilfestandards und auch nicht nur an „Hilfebedürftige“ im Sinne des Sozialgesetzbuches. Schließlich suchen wir alle in bestimmten Phasen nach Schutz und Trost, suchen Rückzugs- und Lernorte oder solche, an denen etwas Neues beginnen kann. Und finden sie auch an Orten, die keine lange Tradition haben.
Manchmal sind die traditionsreichen Orte schon lange leer. Manchen haften dunkle Erinnerungen an. Auch in der Diakonie gab es Missbrauch und Menschenverachtung. Und manchmal sind sie einfach nicht mehr geeignet für die Anforderungen unserer Zeit. Aber es gibt sie noch, die Orte zum Auftanken, diakonische Orte. Wer die Augen offen hat, findet sie - an vielen Bahnhöfen und überall im Land vom Rauhen Haus bis nach Rummelsberg. Oder mitten in der Natur. Und immer mehr Menschen finden da ihren Herzensort. Und teilen ihn mit anderen. Die App unter http://andereorte.de ist eine gute Möglichkeit dafür, ein virtuelles Netzwerk, das auf ganz konkrete Orte und Begegnungen hinweist.
Web-App: http://andereorte.de