Sendung zum Nachlesen
„Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen.“
Ein Physiker soll das gesagt haben. Er lebte im 18. Jahrhundert und hieß Georg Christoph Lichtenberg. Als Sohn eines evangelischen Pastors war er im Pfarrhaus aufgewachsen und begann schon früh damit, seine Eindrücke über Gott und die Welt, vor allem aber über die Menschen aufzuschreiben. Ganz im Stil der Predigten seines Vaters versuchte auch er, Menschen durch Worte zu belehren. Allerdings kamen dabei in der Regel keine langen Predigten heraus, sondern nur kurze Aphorismen. Knappe mahnende Worte, die nicht selten als Weisheitssprüche zu geflügelten Worten wurden.
Einer dieser bekannten Aussprüche ist eben diese Behauptung, es sei nahezu unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen. Noch heute wird er gerne zitiert, vor allem dann, wenn drastische Methoden dazu dienen sollen, die Welt zu verbessern. Der Zweck heiligt hier die Mittel, könnte man sagen, und wenn es der Wahrheit dient, dann müsste man eben auch hinnehmen, wenn der eine oder die andere dabei mal einen kleinen Schaden nähme; es dient ja einer guten Sache, und da kommen eben Kollateralschäden vor.
Gerade Fanatiker, auch jene die sich für ihren Glauben einsetzen, berufen sich gern auf Lichtenberg. Sie können damit argumentieren, dass die Wahrheit eben ein so hohes Gut darstellt, dass der Einsatz dafür auch ein Risiko legitimiert.
Aber ich bin mir da nicht sicher, ob Lichtenberg damit Recht hat, oder ob ich ihn überhaupt richtig verstehe. Es ist wohl kein Zufall, wenn Lichtenberg ausgerechnet von einer Fackel spricht, denn das Licht galt im 18. Jahrhundert als Symbol für die Aufklärung. Licht in die Welt zu bringen war gleichbedeutend mit den Bemühungen der Aufklärung, sich für die Wahrheit einzusetzen und zwar nur mit dem Ziel, die Welt und das Zusammenleben der Menschen dadurch zu verbessern. Der Spruch von Lichtenberg muss also symbolisch verstanden werden.
Und auch mit den Bärten, die im Eifer des Engagements versengt werden, sind natürlich nicht die leibhaftigen Bärte der Männer gemeint. Auch das ist ein bildhafter Ausdruck und zwar für alte Überzeugungen und für bequeme Denkgewohnheiten. Noch heute spricht man in der Umgangssprache davon, die alten Bärte und Zöpfe abzuschneiden, wenn man sich für Neuerungen im Denken einsetzt.
Wenn Lichtenberg also sagt: Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen, dann war das im übertragenen Sinn gemeint. Hier spricht der Sohn des evangelischen Pfarrers, der vielleicht mit den Traditionen der alten Kirche aufräumen, aber gewiss keinem Menschen am Leibe Schaden zufügen wollte. Keine noch so gute Absicht kann es jemals rechtfertigen, anderen Menschen Leid zuzufügen.
Und noch etwas Anderes muss bedacht werden: Welcher Mensch kann überhaupt für sich in Anspruch nehmen, im Sinne der Wahrheit zu handeln? Wer ist sich so sicher, mit der eigenen Überzeugung tatsächlich die Wahrheit abzubilden?
„Was ist Wahrheit?“ fragt schon Pilatus im Neuen Testament, als man Jesus zum Verhör bringt und von ihm ein Urteil erwartet. Pilatus war sich bewusst, dass es bei diesem Prozess mehr um ein Gemengelage politischer Interessen ging als um die Wahrheit. Der Zweifel ist ebenso wichtig wie das beharrliche Fragen nach der Wahrheit. Denn zu oft wird Wahrheit in Anspruch genommen für das, was Einzelne für wahr halten, was aber doch nur eigene Interessen wiedergibt.
Nicht zuletzt sollte sich jeder selbst fragen, ob die eigene Meinung auch einer allgemeingültigen Wahrheit entspricht. Auf keinen Fall aber kann jemand losziehen, anderen Menschen mit seiner Fackel die Bärte zu versengen. Auch dann nicht, wenn es vermeintlich einer guten Sache dient.