"Eine feste Burg" im Serail des Sultans
Wie ein evangelischer Kirchenmusiker Reformationslieder nach Istanbul brachte
13.10.2024 08:35

Ein Protestant wird im 17. Jahrhundert nach Istanbul verschleppt. Er verbindet dort die Melodien evangelischer Kirchenlieder mit osmanischer Musik. 


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Klänge aus Tausendundeiner Nacht? Fast! Es sind Klänge aus der Mitte des 17. Jahrhunderts und in der Tat aus einem Serail, dem Palast des Sultans Mehmed in Istanbul. Die inneren Räume des Serails, zu denen Fremde keinen Zutritt haben, dienten vor allem der Zerstreuung und Unterhaltung. Musik spielte dabei eine große Rolle. Aber die Stücke, die dort im 17. Jahrhundert immer häufiger zu hören waren, und um die es in dieser Sendung geht, fallen aus dem Gewohnten heraus. Sie sind etwas Besonderes, und die sich dahinter verbergende Geschichte ist abenteuerlich. 
Im ersten Moment klingt die Musik so, wie man es aus dem Orient erwartet, mit viel Percussion und den typischen Instrumenten wie Ney und Santur. Wer aber genauer hinhört, erkennt möglicherweise etwas Bekanntes. Eine Musik, die überhaupt nicht orientalisch ist und auch nicht zu diesem Ort passt: Denn das, was da im Inneren des Serails gespielt wird, ist tatsächlich ein evangelischer Choral. Zwar eingekleidet in die Klangwelt der traditionellen osmanischen Musik, und an diesem Ort in türkischer Sprache gesungen. Aber die Melodie stammt doch aus einem evangelischen Gesangbuch:

Der Text für den Choral ist eine Übersetzung des 9. Psalms aus dem Alten Testament. Für das Lied in Reime gefasst heißt es dort in deutscher Übersetzung: 

"Ich will dich, Herr, von Herzensgrund,
loben und preisen alle Stund‘,
und deine Wunderwerke daneben
verkündigen und hoch erheben."

Das Lied war Teil des Genfer Psalters, auch "Hugenottenpsalter" genannt, dem evangelischen Gesangbuch der reformierten Christen, ursprünglich auf französisch. Für die reformierten Christen war dieser Psalm eine Hymne der Reformation, ähnlich wichtig wie Luthers Lied Ein feste Burg ist unser Gott für die Lutheraner. Diese zu Liedern gemachten Psalmen waren so beliebt, dass sie schon bald in zahlreichen Übersetzungen vorlagen. In deutscher, englischer, polnischer Sprache, ja sogar in ungarisch und italienisch verbreiteten sie sich und wurden zum Erkennungszeichen der protestantischen Migranten.

Aber wie kamen diese Reformationslieder nach Istanbul in das Serail des osmanischen Sultans? 
Verantwortlich ist dafür Ali Ufki. Jedenfalls wurde er so genannt, als er im Palast des Sultans als Page diente. Ursprünglich hatte er einen anderen Namen; als er 1610 geboren wurde, hieß er Wojciech Bobowski und kam aus Lemberg. Heute heißt die Stadt Lviv und liegt in der Ukraine. Dort war Wojciech Bobowski in einer reformierten Gemeinde aufgewachsen und hatte eine Ausbildung als Kirchenmusiker erhalten. Es war eine unruhige Zeit. Im Westen tobte der 30jährige Krieg und Lemberg erlebte immer wieder Belagerungen. Aus dem Süden drangen osmanische Truppen vor. Aus dem Osten fielen Tataren über die reiche Stadt her, denen es um Beute ging, und die erzielten sie durch Sklaven. Auch Bobowski wurde als Sklave nach Istanbul verschleppt. Dort kam er in den Dienst des Sultans, weil man seine Talente erkannte. Vor allem erregte er Aufsehen, weil er Musik in Noten festhalten konnte. Notenschrift war damals im Osmanischen Reich unbekannt. Und so startete er eine Karriere als Musiker, Sänger, Chorleiter und eben auch als Komponist. Er sammelte alte osmanische Gesänge, aber für die eigenen Kompositionen griff er auf die Psalmen aus dem reformierten Gesangbuch zurück. Diese Melodien kannte er seit der Kindheit, was lag da näher, als sie im neuen Leben auszugraben und neu einzukleiden.

Ob Sultan Mehmed wusste, welche Gesänge ihm an lauen Abenden vorgeführt wurden, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Die Texte waren ihm wohl bekannt, immerhin gilt der Psalter auch im Islam als heiliges Buch. Erst mit den entsprechenden Melodien verbunden, wurden die Psalmen zu Hymnen der Reformation. In gereimte Strophen geformt wurden sie zu Liedern, die die Gemeinde sang. Wer sie erkannte, wusste um die Bedeutung des Gesangs, andere hörten sie schlicht als Lobpreis Gottes, und in der türkischen Übersetzung ist damit allzumal Allah gemeint.

Viel spannender ist die Frage, wie Ali Ufki es selbst empfand, als er die vertrauten Reformationslieder mit den Mitteln der osmanischen Musik verarbeitete. Vieles deutet darauf hin, dass er nicht nur in der Musik zwischen den Kulturen pendelte: Einerseits fühlte er sich als Christ, andererseits hatte er aber mit den Jahren auch den Islam schätzen gelernt. Eine anhaltende Ambivalenz, die ihn umtrieb, aus der er aber auch reichlich schöpfte. Und zwar als Musiker und Komponist aber auch darüber hinaus. Besonders kamen ihm seine Sprachkenntnisse zu Hilfe, er soll an die elf Sprachen beherrscht haben. Das nutzte er, um zwischen Orient und Okzident zu vermitteln und ebenso zwischen Christentum und dem Islam. Er übersetzte die Bibel in die türkische Sprache, eine Fassung, die bis heute in der Türkei benutzt wird. Außer-dem schrieb er eine türkische Fassung des anglikanischen Katechismus als Kurzanweisung für ein christliches Leben. Das alles bildet sein christliches Engagement in dieser Zeit ab.

Aber es gibt auch die andere Seite, die ihn als Moslem zeigt, der nach Mekka pilgerte und eine Einführung in den Islam in lateinischer Sprache verfasste. Damit wollte er sich an die Gelehrten in Europa richten, um eine vorurteilsfreie Begegnung zu ermöglichen. 

Ali Ufki oder Bobowski wie er sich wechselwiese selbst nannte, er passt in keine Schublade. In späteren Jahren, als er aus dem Serail ausgezogen war und ein Leben als freier Gelehrter führte, wird diese Ambivalenz besonders deutlich. Eine Rückkehr in die Heimat war kaum möglich, denn in Polen-Litauen wurden Protestanten inzwischen verfolgt und vertrieben. Des-halb schwärmte er mal davon, seinen Wohnsitz nach England zu verlegen, um wieder in einer christlichen Umwelt zu leben; dann wiederum wurde er Mitglied eines Sufi-Ordens und begeisterte sich für islamische Mystik. Er blieb bis zu seinem Lebensende in Istanbul und in diesem eigentümlichen Spagat zwischen Reformationsliedern und Sufi-Musik. 
Die Weise, wie sich Kulturen und Religionen in seinem Leben mischen und zu einem ganz Eigenen verbinden, spiegelt sich in seinen Werken: Ja, es kann gelingen, sich für das eine aus-zusprechen, ohne sich damit gegen das andere zu entscheiden. In der Musik wird das hörbar.

War Ali Ufki Christ? War er Moslem? War er beides? Das bleibt in der Schwebe. Noch nicht einmal sein Name ist eindeutig: Ein Teil von ihm ist Ali Ufki, ein anderer bleibt Wojciech Bobowski. Und auch seine religiöse Haltung ist changierend: Er war reformierter Christ, und schloss sich doch einem Sufi-Orden an. In diesem mystischen Kreis fand er Toleranz, musste seine religiöse Heimat nicht verleugnen. Für beide Seiten schrieb er liturgische Musik, beiden begegnete er mit Interesse und Respekt, für beide setzte er sich persönlich ein. In diesem Sinn war er tatsächlich eine transkulturelle Persönlichkeit.: der einen Kultur genauso verpflichtet wie der anderen. Oder anders gesagt, er war Christ und Moslem aber hatte darüber hinaus einen persönlichen Glauben entwickelt, der diese gewohnte Gegenüberstellung über-schreitet. 

Gerade diese Unschärfe wirkt aktuell und macht ihn heute wieder interessant - nach knapp 400 Jahren. Immer noch werden Menschen aus ihrer Kultur vertrieben und müssen sich in einem neuen Umfeld arrangieren. Dazu gehört einiges: Sprachen lernen, andere Essgewohnheiten akzeptieren, fremde Kleidung übernehmen. Eben die Gewohnheiten des Alltags anpassen, und nicht zuletzt den Glauben. 

Ali Ufki hat sich in sein neues Leben eingefunden und profitierte davon. Er hat die ihm fremde Musik studiert, und etwas Neues daraus geschaffen. In der Religion verfuhr er ähnlich. Es ist so, als hätte er sich einen Spruch des Apostels Paulus zu eigen gemacht. Der spricht in seinem Brief an die Thessalonicher eine Empfehlung aus, die gerade in einer fremden Welt wichtig wird: "Prüfet alles, das Gute aber haltet fest!" (1 Thes 5,21) 

In dieser Vielschichtigkeit wirkt Ali Ufki ausgesprochen modern. Sein Leben bürstet unsere Denkgewohnheiten gegen den Strich und zeigt, was Integration auch heißen kann: Eben nicht nur Anpassung, sondern Entwicklung eines Neuen aus der Begegnung. Getragen von gegenseitigem Interesse, Anerkennung und vor allem von Respekt.

Es war tatsächlich ein aufregender Moment, als der Sklave Ali Ufki dem Sultan in seinem Palast in Istanbul Reformationslieder vorspielte. Sie waren ein Teil seiner Vergangenheit, ein Teil seiner Identität, die nun ein neues Gewand bekamen. Die Lieder des Genfer Psalters galten den Protestanten, die aus ihrer Heimat vertrieben oder verschleppt worden waren, als Ausdruck einer über Grenzen hinausreichenden Verbundenheit. Historiker sprechen sogar von den "singenden Asylanten", wenn sie die Bedeutung des Genfer Psalters im 17. Jahrhundert beschreiben. 

Diese Melodien wirkten vertraut, sie wirkten in der Fremde heimatlich. Ali Ufki hat das gespürt: Wenn er sie mir den Klängen der osmanischen Musik verbindet, können sie versöhnen und Gräben überwinden. 


Die Musik von Ali Ufki ist aufregend, vielleicht weil sich in ihr das Ringen um einen ganz eigenen Weg spiegelt. Ein Weg, der deutlich macht: Integration ist mehr als pure Anpassung. Integration ist Symbiose, Neuanfang und aufregend. Es macht einfach Freude, diese Musik zu hören.

Es gilt das gesprochene Wort.


Musik dieser Sendung:
1. Ali Ufki  / The King´s Singers: Psalm 9, Instrumentalpart
2. Ali Ufki  / The King´s Singers: Psalm 9, türkische Strophe
3. Ali Ufki / Dirler ki kovalum bendelerini üstümüzden atalìm iyilerini (Mezmur 2)
4. Ali Ufki / The King´s Singers: Psalm 5, Instrumentalpart
5. Ali Ufki / Ensemble Constantinople: Zarb-e fath
6. Ali Ufki / Ensemble Constantinople: Fath-e bâb