Der Schmerz wird nicht mehr sein

Zahnarztbesteck auf einem Tablett

Gemeinfrei via unsplash.com/Jon Tyson

Zahnarztbesteck auf einem Tablett

Der Schmerz wird nicht mehr sein
Über Zahnschmerz und Utopie
07.06.2020 - 08:35
30.01.2020
Peter Oldenbruch
Über die Sendung:

In Uwe Timms Essayband „Der Verrückte in den Dünen“ wird Zahnschmerz zum Gleichnis – für Utopie. 

 
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Sendung nachlesen:

Das war der Bohrer eines Zahnarztes. Dieses Geräusch löst Panik aus, offensichtlich bei vielen Menschen. Und das ist schon merkwürdig. Dient doch der Bohrer des Zahnarztes der Heilung. Mit ihm wird die Ursache des Zahnschmerzes bekämpft. Zuerst ist schließlich das Zahnweh da. Und das nagt, pocht, sticht, hämmert, zermürbt und zieht sich plötzlich zurück, für ein paar Sekunden, Minuten gar, und dann geht´s wieder los: das Nagen und Pochen, das Stechen und Hämmern.

Zuerst ist der Zahnschmerz da, dann kommt der Bohrer. Wenn man sich - zu spät oft - zum Zahnarzt traut. Vor ein paar Wochen erschien Uwe Timms Essayband „Der Verrückte in den Dünen - Über Utopie und Literatur.“ Im letzten Aufsatz „Der Aufwachraum“ habe ich eine Passage zu Zahnschmerzen und Zahnarzt gefunden. Uwe Timm - er wurde vor zwei Monaten 80 - erzählt dort von seinem ersten Zahnarztbesuch in den 50er Jahren.

 

Und da

„bohrte der freundliche Herr Podszus mit dem Hinweis, er müsse mir jetzt leider sehr wehtun, an meinem Backenzahn. Die Schmerzen waren unerträglich, auch der väterliche Hinweis, man müsse ihnen entgegengehen, sie annehmen, fiel bei den Zähnen besonders schwer. Das war kein heroischer, sondern ein punktueller kleiner fieser höllischer Schmerz.“

 

Heute kann man den kleinen fiesen höllischen Schmerz unterdrücken. Man spürt den Einstich der Spritze, danach noch Druck, aber keinen Schmerz.

Der Zahnarzt Till Gerlach sagt:

 

„Na, die Anästhesien gibt´s eigentlich schon viele, viele Jahre, die Frage war nur, wann man standardmäßig auf diese Anästhesien auch zugegriffen hat. Die Häufigkeit, mit der die Anästhesien zum Einsatz gekommen sind, sind sicherlich in den letzten Jahrzehnten so viel mehr geworden, dass heutzutage zum Beispiel auch bei Patienten, die empfindlich sind und eine Zahnreinigung brauchen, durchaus mal eine Anästhesie gegeben wird.“

 

Die modernen Anästhesien wurden wohl in den 60er Jahren in den Zahnarztpraxen zur Regel. Davor „gab es über Jahrtausende nur unerträgliche, fürchterliche Schmerzen bei Amputationen, […] dem Entfernen von Kugeln, Splittern, Zähnen oder Nierensteinen.“ (1)

 

Thomas Buddenbrook zum Beispiel, ohnehin gesundheitlich angeschlagen, sucht bei einem Zahnarzt Hilfe. Ein Zahn muss gezogen werden. Ohne Betäubung natürlich. Und der Senator Thomas Buddenbrook spürte zunächst, so erzählt es Thomas Mann

„kaum das Ansetzen und Zugreifen der Zange, bemerkte dann aber an dem Knirschen in seinem Munde sowie an dem wachsenden, immer schmerzhafter und wütender werdenden Druck, dem sein ganzer Kopf ausgesetzt war, dass alles auf dem besten Wege sei. ´Gott befohlen!` dachte er. ´Nun muss es seinen Gang gehen. Dies wächst und wächst bis ins Maßlose und Unerträgliche, […] bis zu einem wahnsinnigen, kreischenden, unmenschlichen Schmerz, der das ganze Gehirn zerreißt.“ (2)

 

Die Behandlung missglückt. Und Senator Buddenbrook wird an den Folgen dieser Zahnextraktion sterben.

Uwe Timm sagt zu Recht:

 

„Vor hundert Jahren, selbst noch vor siebzig Jahren, ich kann mich daran erinnern, war eine schmerzfreie Zahnbehandlung eine utopische Vorstellung.“

 

Und noch vor nahezu 60 Jahren war das noch lange nicht so wie heute. Auch die Gerätschaften der Zahnärzte sahen irgendwie martialischer aus, vielleicht war´s auch bloß altmodischer - aus heutiger Sicht.

Und natürlich - „man merkt, ich habe Probleme mit den Zähnen“ (3), gesteht der Autor Uwe Timm. Der hat allerdings kein Buch über Zahnschmerzen geschrieben, sondern eines über Utopien. Der Zahnschmerz jedoch dient ihm als Gleichnis.

 

„Schmerzen müssen nicht mehr sein“, mit diesem schönen Satz tröstet ihn seine Tochter, eine Ärztin. Und „in dem nicht mehr liegen all die Schmerzen der Vergangenheit begraben.“ (4)

Uwe Timm hält seine Generation für die erste, der eine „weitgehende Erlösung vom körperlichen Schmerz“ (5) geschenkt wurde. Dieses Privileg jedoch privatisiert er nicht, er will es nicht für sich allein haben. Der Kampf gegen den Schmerz ist für ihn eine existenzielle Utopie:

„Der Kampf gegen Schmerz, zumal gegen den vom Menschen dem Menschen zugefügten, gegen die Folter, ebenso wie der Kampf gegen den unnötigen Tod wegen fehlender medizinischer Versorgung oder gar wegen Kriegen ist die existenzielle Utopie. Aus ihr ließe sich eine Moral ableiten, die auf das Jenseits und die Religion verzichten kann.“

 

Ich vermute, Timm will auf eine Moral hinaus, die auf Drohung und Belohnung verzichten kann, aufs Eiapopeia vom Himmel wie auf Höllenstrafen.

Aus innerer Überzeugung kämpfen die Menschen gegen den Schmerz, vor allem den menschengemachten - motiviert von der existenziellen Utopie.

So, denk´ ich, stellt Uwe Timm sich das vor.

 

„Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen!

Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein,

und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;

und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen,

und der Tod wird nicht mehr sein,

noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.“

 

So soll das neue Jerusalem aussehen. Diese himmlische Stadt wird auf die Erde herabschweben, wenn der erste Himmel und die erste Erde vergangen sind. Und, nicht zu vergessen: auch das Meer. Jedenfalls sah das der Seher Johannes so, im letzten Buch der Bibel.

Auch wenn Johannes grausame apokalyptische Szenen malen kann, hier droht er nicht, vertröstet auf kein Eiapopeia und verspricht keine himmlische Belohnung für moralisch korrektes Handeln auf Erden. Nein, das himmlische Jerusalem ist eine Utopie, ein Nicht-Ort, eine utopische Vision: eine himmlische Stadt, ein Ort, an dem noch kein Mensch gewesen sein kann. Unter dem neuen Himmel, auf der neuen Erde ist auch das Meer verschwunden.

 

Für heutige Ohren klingt Meer nach Urlaub, nach Wind und Weite, nach Strand und Sonne. Und in diesem Sommer, in dem viele ihren Urlaub am Strand längst gecancelt haben, verwandelt sich das Meer zum Sehnsuchtsort. Für den Seher Johannes auf Patmos mitten im Meer war das ganz anders. Für ihn ist das Meer Bedrohung schlechthin. Auf dem Meer ist man vom Untergang bedroht. Deshalb fuhren die Segelschiffe der Antike sicherheitshalber an der Küste entlang.

Eine Welt ohne Meer ist eine Welt, aus der die Bedrohung des Lebens verschwunden ist. Kein Leid, keine Qual, kein Schmerz, keine Folter, kein Tod. Warum so maßlos? Wahrscheinlich braucht es solch einen maßlosen Traum, „damit nicht die vielen Traumproduzenten und -vertreiber uns vorgaukeln können, unsere letzten und größten Wünsche erfüllen zu können.“ Die uns heute den Himmel auf Erden versprechen, „sind an diesem Traum zu messen.“ (6)

Das Besondere am himmlischen Jerusalem ist: es kann nicht von Menschen erbaut werden. Das himmlische Jerusalem kann man nicht aufbauen, wie man dachte, den Sozialismus aufbauen zu können. Wolf Biermann wetterte in „Wartet nicht auf bessre Zeiten“ gegen die DDR. Er meinte, das beste Mittel gegen Sozialismus sei:

„dass ihr den Sozialismus, aufbaut!, aufbaut!, aufbaut!“
 

Das himmlische Jerusalem kann man nicht aufbauen.

Thomas Morus beschrieb im Roman Utopia, wie man einen utopischen Staat aufbaut. Das himmlische Jerusalem jedoch schwebt, wie gehört, von oben herab. Es ist eine Utopie, die kein Mensch realisieren soll.

 

In „Der Verrückte in den Dünen“ erzählt Uwe Timm von utopischen Entwürfen, von Thomas Morus oder vom Verrückten in den Dünen Argentiniens. Und konstatiert: normative Entwürfe werden leicht zu „Zwangsjacken der Gesellschaftsplanung“. Machen Menschen sich daran, Utopien zu realisieren, wird´s schnell totalitär. „Utopien wirken gerade dadurch, dass sie nicht realisiert werden. Jede Realisierung von Utopie dementiert diese. Um der Utopie willen gilt es, deren utopischen Gehalt zu bewahren.“ (7)

An Uwe Timms Buch hat mir so gut gefallen: Er beschreibt das Versagen der Menschen, die versuchen, Utopien zu realisieren. Und gerade so bewahrt er deren utopischen Gehalt. Körperliche Schmerzen müssten nicht mehr sein, tröstete Timms Tochter, die Ärztin. Wie schön: das immerhin ist seit mehr als einem halben Jahrhundert gelungen.

Noch einmal Uwe Timm:

„In diesem Gelingen liegt die Aufforderung, den anderen Schmerz, den unnötigen, des Hungers, der Armut, der sozialen Erniedrigung und Unterdrückung zu beheben, damit die Erde für alle Heimat sein kann.“

 

So endet Uwe Timms Buch über Utopie und Literatur.

Diese Heimat, die vielen in die Kindheit scheint, ist etwas, worin noch niemand war. Und doch: möglich wäre das, den unnötigen Schmerz zu beseitigen, Hunger und Armut, Folter und Unterdrückung.

„Sieh´ da: die Hütte Gottes bei den Menschen! Er wird abwischen alle Tränen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.“ Total gesponnen! Unmöglich! Niemals, nirgends!

Ja, sicher. Doch dieses feinstgesponnene Gewebe wirkt. Es lässt Menschen die Realität nicht wichtiger nehmen, als das, was noch nicht ist, wohl aber sein könnte. Schmerzen müssen nicht mehr sein, Zahnschmerzen nicht und die anderen furchtbaren, von Menschen gemachten erst recht nicht.

 

Denkbar wäre ja auch das Gegenteil: eine Zeit, in der wir total empfindungslos umherkriechen, „in der uns nichts mehr angeht, unter die Haut geht, neben uns schreit ein Sterbender und wir wenden den Kopf nicht, neben uns wird ein Kind gegen eine Mauer geschleudert und wir erschrecken nicht. Demgegenüber scheint auf jeder noch so bescheidenen Anteilnahme, jedem noch so billigen Erbarmen der Schimmer eines goldenen Zeitalters zu liegen. Wir können noch sehen, wir können noch hören, wir können noch leiden, noch lieben.“ (8)

Zahnschmerzen müssen nicht mehr sein - das Gleichnis eines Dichters. Der Schmerz wird nicht mehr sein, schaute der Seher Johannes, verbannt auf seiner von Wind und Meer umtosten Insel Patmos. Auf die Frage nach seinen zehn bevorzugten Wörtern antwortete Albert Camus:

„Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer.“

 

Da haben wir alles beisammen.

Nur: der Schmerz muss nicht mehr sein, der Schmerz wird nicht mehr sein, Elend wäre keins mehr da. Und die Realität trachtete nicht mehr danach, sich der Utopie zu bemächtigen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Torsten Harder, Cellovariationen zu „Von guten Mächten“
  2. Foresee, John Sponsler, Tom Gire, Architects Series: Ethereal – Single Acts
     

Literaturangaben:

  1. Uwe Timm, Der Verrückte in den Dünen, Über Utopie und Literatur, Köln 2020, 250
  2. Thomas Mann, Buddenbrooks, Berlin 1969,701
  3. Uwe Timm, a.a.O.
  4. a.a.O., 251
  5. a.a.O., 252
  6. Jürgen Ebach, „…und behutsam mitgehen mit deinem Gott“, Theologische Reden 3, Bochum 1995, 140
  7. Albrecht Grözinger, Toleranz und Leidenschaft, Gütersloh 2004, 211
  8. Marie Luise Kaschnitz, Steht noch dahin, Ffm 1976, 81
30.01.2020
Peter Oldenbruch