Hat dir nicht Gott den Mut gegeben?

Sophie Scholl in Blumfeld 1942

Photo12/Universal Images Group via Getty Images/

Hat dir nicht Gott den Mut gegeben?
Sophie Scholls Widerstand aus Glauben
09.05.2021 - 08:35
18.04.2021
Peter Oldenbruch
Über die Sendung:

"Am Sonntagmorgen" im Deutschlandfunk zum Nachhören und Nachlesen

 
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„Mein Gott, ich kann nichts anderes als stammeln zu Dir.

Nichts anderes kann ich, als Dir mein Herz hinhalten, das tausend Wünsche von Dir wegziehen.

Ach, wieweit bin ich weg von Dir, und das beste an mir ist noch der Schmerz, den ich darüber empfinde.

Hilf mir einfältig werden, bleibe bei mir, o, wenn ich einmal Vater sagen könnte zu Dir.

Doch kann ich Dich kaum mit „Du“ anreden.

Ich tue es, in ein großes Unbekanntes hinein.

Lehre mich beten.

Lieber unerträglichen Schmerz als ein empfindungsloses Dahinleben.“ (1)

 

Diese Sätze schrieb Sophie Scholl am 29. Juni 1942 in ihr Tagebuch. Acht Monate später wird die 21-Jährige hingerichtet.

Sophie Scholl gilt vielen als Ikone, als die Seele des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Und in der Evangelischen Kirche ist sie neben Dietrich Bonhoeffer so etwas wie eine „evangelische Heilige“. Sie selbst - vermute ich - hätte darüber gelacht. Sie sehnte sich zwar nach Glaubensgewissheit, aber „nur selten fühlte sie sich im Glauben geborgen“ (2).

In ihrem Tagebuch lese ich von ihren Glaubenszweifeln. Sophie Scholl benennt ihre Zweifel im Gespräch mit Gott. Zu Gott kann sie nur stammeln, weit weg von ihm fühlt sie sich. Diese Gottesferne schmerzt sie und sie wehrt sich nicht dagegen. Ja, sie betet darum: „Lieber unerträglicher Schmerz als empfindungsloses Dahinleben“.

Sie arbeitet sich ab an der Frage nach Gott.

Und sie liest: Augustinus zum Beispiel oder Thomas Manns Zauberberg. Sie besucht Konzerte oder Leseabende, hört den damals verpönten Jazz, trifft sich mit Freunden im Restaurant oder zum Tee. Und immer wird debattiert und sich ausgetauscht.

Ich sehe keine glaubensgewisse Märtyrerin, die sich von bestimmten Glaubenssätzen her entscheidet, Widerstand zu leisten. Etwa: Weil uns Gott durch Leben, Sterben und Auferstehung seines Sohnes Jesus Christus mit sich und der Welt versöhnt hat, darum verurteile ich das sinnlose Sterben in Stalingrad. So darf man sich das nicht vorstellen.

Sophie-Scholl-Biographin Maren Gottschalk hält sie für „eine junge Frau voller Selbstzweifel, die … sich selbst nicht belügen“ konnte. Exzessive Selbstbeobachtung, Suchen und Zweifeln seien ihr zur Gewohnheit geworden.

Voller Zweifel sucht sie auch nach Gott, den sie als fern erlebt. Sie sucht nach einem Leben, das für sie stimmt. Es scheint mir diese Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik zu sein, die sie kritisch werden lässt - auch dem NS-Regime gegenüber. Schließlich lehnt sie die Nazi-Denke ab. Und aus dem nationalsozialistischen BDM-Mädchen, der überzeugten Jungmädel-Führerin wird eine Widerstandskämpferin.

 

Bei dem Wort Widerstandskämpferin denke ich an die Résistance, an Attentate auf führende Nazis, an Bombenangriffe auf Züge. Das aber war nicht der Widerstand von Sophie Scholl und der Weißen Rose. Sophie Scholl hat wohl an den Flugblättern fünf und sechs der Weißen Rose mitgearbeitet. Und sie hat vielleicht 10.000 Flugblätter mit ihrem Bruder hektographiert, verschickt und verteilt, u.a. auch im Lichthof der Münchner Uni. In dem Flugblatt, das Sophie Scholl dort verteilt hat, stand zum Beispiel, der preußische Militarismus dürfe nie mehr zur Macht gelangen.

Und weiter:

 

„Nur in großzügiger Zusammenarbeit der europäischen Völker kann der Boden geschaffen werden, auf welchem ein neuer Aufbau möglich sein wird. … Das kommende Deutschland kann nur föderalistisch sein.“

 

Für die Weiße Rose gibt es nur eine Parole:

„Kampf gegen die Partei! Heraus aus den Parteigliederungen, in denen man uns politisch weiter mundtot halten will!

Heraus aus den Hörsälen der SS-, Unter- oder Oberführer und Parteikriecher!

Freiheit und Ehre!

Zehn lange Jahre haben ­Hitler und seine Genossen die beiden herrlichen deutsche Worte bis zum Ekel ausgequetscht, abgedroschen, verdreht, wie es nur Dilettanten ver­mögen, die die höchsten Werte einer Nation vor die Säue werfen.

Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht.“

 

Flugblätter sind Worte, kein Attentat und keine Bomben. Ganz offensichtlich glaubten Sophie Scholl und ihre Mitstreiter daran, dass ihre Worte andere Menschen zum Widerstand bewegen, zumindest zum passiven Widerstand. Auf der 80-Cent-Gedenkbriefmarke, die man seit vergangenem Donnerstag kaufen kann, wird ein Satz zitiert, den die Mitgefangene Else Gebel nach dem Krieg im Ohr hatte. Am Morgen ihrer Hinrichtung habe Sophie Scholl gesagt:

 

„So ein herrlicher, sonniger Tag und ich muss gehen.

Was liegt an meinem Leben, wenn durch unser Handeln

tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden.

Unter den Studenten gibt es bestimmt eine Revolte.“ (3)

 

Sophie Scholls Bruder Hans sagte später aus, er habe „keine besondere Wirkung dieser Flugblätter feststellen“ können und „von keiner Seite zu dieser Aktion einen Widerhall gefunden.“ (4) Widerstand aus Glauben, aus dem Glauben ans Wort. Solchen Widerstand darf man nicht allein daran messen, was er bewirkt. In dieser Hinsicht ist Sophie Scholl protestantisch. Evangelisch sein hat immer mit dem Wort zu tun, mit Gottes Wort und den Wörtern, mit Lesen, Reden und Hören.

 

Dietrich Bonhoeffer, ein Mann des Wortes auch er, agierte anders.

Er war sich sicher, dass Adolf Hitler mit Gewalt beseitigt werden muss.

Auch Sophie Scholl hat einmal gesagt:

 

„Wenn hier Hitler mir entgegen käme und ich eine Pistole hätte, würde ich ihn erschießen.

Wenn es die Männer nicht machen, muss es eben eine Frau tun."

 

Gewaltsamer Widerstand jedoch lag völlig außerhalb der Möglichkeiten der Weißen Rose. Das mussten Militärs tun, keine Studierenden. Sophie Scholls Handeln war Widerstand mit Worten und einer aus dem Glauben ans Wort.

 

Die ZDF-Produktion „Die Seele des Widerstands“ aus 2013 beginnt mit ein paar Sätzen von Sophie Scholl, die sie sozusagen aus dem Jenseits spricht.

 

„Ich hätte mich rausreden können, als es um meinen Kopf ging. Sie hätten mich vielleicht laufen lassen, weil ich eine junge Frau war, die eh nichts von Politik versteht. Mein Verbrechen war, dass ich die Dinge beim Namen nannte: das Unrecht Unrecht und die Mörder Mörder. Man muss einen harten Verstand haben und ein weiches Herz. Nach dieser Überzeugung habe ich immer gehandelt.“

 

Ja, vielleicht. Ihre Mitgefangene nennt Sophie „dies liebe Mädel mit dem offenen Kindergesicht“.

Vielleicht hätte man sie auch deswegen laufen lassen.

Ich bezweifle es.

Es wurden Menschen zum Tode verurteilt und hingerichtet, weil sie politische Witze erzählten oder beim Singen der Nationalhymne sitzenblieben. Das galt als „eindeutiger politischer Widerstand". Sophie Scholls Handeln war eindeutig und sie hat ihre Taten gestanden. Am Ende ihrer Vernehmung fragt der Kriminalkommissar, ob sie nun zu der Auffassung gelangt sei, ihre Handlungsweise sei ein Verbrechen.

 

Sie antwortet:

 

„Von meinem Standpunkt aus muss ich diese Frage verneinen.

Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich

gerade jetzt für mein Volk tun konnte.

Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht

und will die Folgen, die mir aus meiner Handlungsweise erwachsen,

auf mich nehmen.“ (5)
 

Auch diese Haltung ist protestantisch. Vor genau 500 Jahren war in Worms der protestantische Ur-Satz zu hören:

Hier stehe ich!

Und natürlich machte diese Standfestigkeit sie zur Heiligen, zur Ikone, zur Seele des Widerstandes. Eine 15-jährige Schülerin hat in Reli einen Brief an Sophie Scholl geschrieben:

 

 

„Liebe Sophie, ein Brief von mir an dich.

Manchmal sagt mehr über den Menschen aus, wie er starb, als wie er lebte.

Du hast uns gezeigt, wie stark du bist, als jeder andere zusammengebrochen wäre.

Bis zum Letzten eine Kämpferin.

Eine Gruppe, klein und unscheinbar wie eine weiße Rose drüben im Garten, doch die Dornen, der kräftige Stiel und die Überlebenskraft sind nur selten auf den ersten Blick zu sehen.

Und ein junges Mädchen, oft unterschätzt, zeigt, wie stark eine zarte weiße Rose sein kann.“ (6)

 

Einer meiner Lehrer, ein Jahr jünger als Sophie Scholl, meinte in einem Buch über seine Jugend in Nazi-Deutschland, „Unwahrhaftigkeit, ein Quantum Unmoral, ja: Ruchlosigkeit“ gegenüber dem NS-Saat seien nötig gewesen, seien sogar: „Elemente der Menschlichkeit“ (7).

Vielleicht hätte man das liebe Mädel mit dem Kindergesicht laufen lassen, wenn sie nicht gestanden hätte. Und wie wichtig wäre sie gewesen im Nachkriegsdeutschland.

 

Ach, sie hätte auferstehen sollen im Mai 1945. Erich Fried dichtete einmal:

„Wenn die Geköpften den Kopf wieder hochtragen könnten […], ob die nicht den Kopf schütteln würden?“ (8)

Also: Wenn die Gefallenen aus den Kriegen und die Opfer gleich welcher Gewalt zurückkehrten, ob die nicht andere Geschichten erzählten als die Überlebenden?

 

Thomas Mann würdigte die Weiße Rose 1943 in einer BBC-Rede:

 

„Deutsche Hörer! In diesem Sommer wurde die Welt aufs Tiefste bewegt von den Vorgängen an der Münchener Universität, wovon die Nachricht durch Schweizer und schwedische Blätter, erst ungenau, dann mit immer ergreifenderen Einzelheiten, zu uns gedrungen ist. Wir wissen nun von Hans Scholl, dem Überlebenden von Stalingrad, und seiner Schwester, von Christoph Probst, dem Professor Huber und all den andern; von ihrem Märtyrertod, von der Flugschrift, die sie verteilt haben und in der Worte stehen, die vieles gutmachen, was in gewissen unseligen Jahren an deutschen Universitäten gesündigt worden ist.“

 

Mit hartem Verstand und weichem Herzen handeln,

in zweifelndem Glauben an Gottes Wort leben

und im Vertrauen auf die Macht des Wortes - solcher Protestantismus tut auch heute gut.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

 

Musik dieser Sendung:

 

  1. Benny Goodman & Orchestra, Roll ´em, CD-Titel: The King of Swing – Benny Goodman
  2. Benny Goodman & Orchestra, Roll ´em, CD-Titel: Bangkok 1956

 


 

Literaturangaben:

 

1. Hans und Sophie Scholl, Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Inge Jens, Frankfurt am Main 2003, 260f

2. Maren Gottschalk, Sophie Scholl, Eine Biografie, München 2020

3. Zitiert nach Maren Gottschalk, Sophie Scholl, Eine Biographie, München 2020, S. 282.

4. Ebd.

5. Ebd., S. 293.

6. https://www.boos-goeckel.de/100ter-geburtstag-sophie-scholl, S. 49.

7. Peter Brückner, Das Abseits als sicherer Ort, Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945, Berlin 1980, S. 108.

8. Erich Fried, Lebensschatten, Berlin 1981, S. 50.

 

 

 

 

 

 

18.04.2021
Peter Oldenbruch