Ein Gefühl von Ewigkeit

Wort zum Tage
Ein Gefühl von Ewigkeit
07.01.2015 - 06:23
05.01.2015
Pfarrer i.R. Michael Becker

Am liebsten gehe ich in Rosis Laden bei mir gleich um die Ecke. Da gibt es fast alles: Zeitungen, Getränke, Schokolade, auch mal ein Schwätzchen. Und eins gibt es, was es sonst kaum noch gibt: In Rosis Laden ist die Zeit stehen geblieben, wie man so sagt. Alles sieht immer gleich aus. Alles steht an dem Platz, an dem es auch gestern stand und seit Jahren steht. Mit geschlossenen Augen würde man die Zeitung finden oder den Schokoriegel. Alles am gleichen Platz. Alles wie immer.

 

Wie langweilig, sagen manche, nie ein frischer Wind. Ich denke das nicht. Zeit darf ruhig mal stehen bleiben. Es stimmt ja nicht, Zeit kann gar nicht stehen bleiben. Aber ich fühle es so. Wenn in anderen Geschäften alle paar Monate alles umgeräumt wird, damit ich andere Waren sehe und dadurch mehr kaufe, steht bei Rosi alles am gleichen Platz. Es gibt auch nicht zehn Sorten Kaffee, sondern nur zwei. Und nicht acht Brötchensorten, bei denen Verkäuferinnen kaum noch die Namen wissen.

 

Es bleibt einfach alles beim Alten. Die Zeit bleibt mal stehen, sozusagen.

 

Das tut gut. Erst recht, wenn man etwas älter wird. Man lernt das Vertraute mehr zu schätzen. Vieles in der Welt ist so schnell geworden, dass man oft nicht mehr mitkommt. Immer neue Verpackungen, Preise und Gewichte fürs Gleiche; immer mehr Auswahl, bis man den Überblick verliert, verlieren soll; immer rätselhaftere Namen schon bei Wurst, Käse und Brot. Wenn man sich gerade an etwas gewöhnt hat, wird es morgen weggeschafft, um Platz zu haben für Neues. Die Verwirrung ist Absicht. Wer keinen Überblick mehr hat, kauft mehr. Und wenn auch nur aus Versehen - Hauptsache mehr. Ein Gefühl ist das, als drehe sich die Welt immer schneller und man selbst werde schwindelig dabei. Dann muss man die Welt einfach mal anhalten und die Zeit gleich mit. Auch Jüngere überschätzen sich oft und tun so, als kämen sie mit. In Wahrheit werden schon Kinder immer nervöser und flüchtiger. Da tut es gut, wenn sich mal nichts dreht und es Wochen gibt, wo alles einfach an seinem Platz bleibt. Das bekommt der Seele. Die Seele will gar nicht, dass Gott und die Welt jeden Tag neu erfunden werden. Sie liebt es, wenn die Zeit mal stehen bleibt. Wie in Rosis Laden gleich um die Ecke. Das hat etwas Ruhiges, Erhabenes. Ein Gefühl von Ewigkeit.

05.01.2015
Pfarrer i.R. Michael Becker