Grenzerfahrungen – Zu Gast in der Mitte Europas

Evangelischer Rundfunkgottesdienst
Grenzerfahrungen – Zu Gast in der Mitte Europas
Rundfunkgottesdienst aus der Evang. Kirche Schleife
03.06.2018 - 10:05
07.02.2018
Pfarrerin Jadwiga Mahling
Über die Sendung

Ganz im Osten Deutschlands - im kleinen  Ort Schleife in der Schlesischen Oberlausitz - leben Menschen an der Grenze: an der Grenze von Deutschland zu Polen, zwischen Brandenburg und Sachsen, geprägt von sorbischer und deutscher Kultur. Über Jahrhunderte hat sich hier eine kulturelle Vielfalt entwickelt, die so in Deutschland einzigartig ist. Das Schleifer Kirchspiel liegt mitten in der Lausitzer Heidelandschaft. In einer schlichten gotischen Dorfkirche ist die evangelische Kirchengemeinde mit ihren 1700 Gemeindegliedern beheimatet.

 

Der Gottesdienst beleuchtet die Spannung zwischen Grenze und Offenheit. Grenzerfahrungen gehören zum Leben. Nicht nur im Schleifer Kirchspiel. Nicht nur die deutsche Geschichte und die aktuelle politische Lage sind geprägt von solchen Grenzerfahrzungen. Auch im persönlichen Leben gehören sie dazu: Geduld stößt manchmal an Grenzen, die Kräfte Einzelner sind nicht unerschöpflich, sondern begrenzt. Ist Glaube grenzenlos? Oder stößt auch er an Grenzen? Bedeutet Grenze überhaupt Endstation? Oder steckt gerade auch in einer Grenzerfahrung die Chance auf Neubeginn?

 

Glaube vollzieht sich oft „an der Grenze“: an der Grenze des Vorstellbaren und des Planbaren. An der Grenze zwischen Leben und Tod. Von den stärkenden Erfahrungen dieses Grenzglaubens erzählt der Gottesdienst aus der Schleifer Kirche. Darin erklingt die Vielfalt der Region: Es singt und musiziert das sorbische A-cappella Vokalensemble „kolesko“ sowie der Posaunenchor der Kirchengemeinde unter der Leitung von Kantor Björn Sobota. Die Predigt hält die 34-jährige Pfarrerin Jadwiga Mahling. Sie selbst wuchs in der Lausitz auf und ist die erste sorbische Pfarrerin.

 

Gottesdienst nachhören

 

Den Gottesdienstmitschnitt finden Sie auch direkt unter http://www.deutschlandradio.de/audio-archiv.260.de.html?drau:broadcast_id=122

Predigt zum Nachlesen
 

Dein Wort sei meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg.

 

Liebe Schwestern und Brüder in Christus!

 

Neulich klingelte Lazarus an unserer Tür. Löchrige Hose und Badelatschen. In der Hand ein großer Plastebeutel. Seit Monaten sei er so unterwegs. Ein zu Hause gibt es für ihn nicht mehr. Ob er nicht wenigstens eine Nacht im Pfarrhaus übernachten könne?

 

Wie hätten Sie in dieser Situation reagiert? Wo sind Ihre Grenzen der Toleranz und der Barmherzigkeit? Welche Gedanken kommen Ihnen, wenn Sie die Lazarusse dieser Welt sehen: Vor dem Supermarkt mit einer Flasche Bier, auf den Straßen bettelnd mit einem Pappbecher in der Hand oder auf der Parkbank liegend mit dem Plastebeutel als Kopfkissen?

 

An meine Grenzen komme ich, wenn ich über das heutige Evangelium nachdenke. Denn in dieser Geschichte von Lazarus und dem reichen Mann, da geht es scheinbar nur um Grenzen: Die Grenze von Arm und Reich, Tod und Leben, um Wasser und Feuer, Hier und Dort. Eine Verständigung scheint nicht möglich.

 

Ich spüre förmlich die Unbarmherzigkeit: Sowohl beim Reichen gegenüber Lazarus als auch später bei Abraham gegenüber dem Reichen. Er antwortet ihm auf seine flehentlichen Bitten brutal: „Ich sehe deine Not. Helfen kann ich dir nicht.” Das soll biblische Botschaft sein?

 

Jesus greift hier eine Geschichte auf, die viele zu seiner Zeit kannten. Ursprünglich ist sie in Ägypten erzählt worden. Sie handelte vom reichen Steuereintreiber Bar May’an und dem armen Gelehrten Aschkalon. Beide sterben. Und ihr Schicksal wandelt sich: Auf einmal leidet der Reiche und der arme Gelehrte findet sich in Abrahams Schoß wieder.

 

Doch Jesus überspitzt diese Geschichte noch und interpretiert sie neu: Da ist zunächst der reiche Mann, gekleidet in Purpur und feinstes Leinen, Byssos im Griechischen genannt. Diese beiden Stoffe konnten sich nur die Reichsten der Reichen leisten. Doch dann liegt da plötzlich dieser Lazarus vor der Tür. Voller unreiner Geschwüre. Dazu die Hunde, die den Armen als unreine Tiere ableckten. Das ist ekelhaft. Das stinkt.

 

Für einen gläubigen Juden – egal ob reich oder arm – war es ein Ding der Unmöglichkeit, Lazarus zu berühren oder ihm gar zu helfen. Denn dann würde man ja selbst unrein werden. Rein und Unrein. Der eine hier, der andere dort.

 

Jesus beschreibt in dieser Geschichte eine unüberwindbare Grenze. Und gerade damit nimmt Jesus die Grenzen unseres Lebens ernst. Er übertüncht sie nicht mit dem Satz „Wir haben uns alle lieb.”

 

 

 

Jesus erzählt weiter: Sowohl Lazarus als auch der reiche Mann sterben. Und nun kommt Abraham ins Spiel. Lazarus findet in seinem Schoß Ruhe und Geborgenheit. Der Reiche hingegen kommt ins Totenreich. Heiß ist es dort. Unerträglich heiß. Der Reiche leidet Qualen – so wie vorher Lazarus. Die Grenze zwischen arm und reich öffnet sich für einen Moment. Die beiden tauschen.

 

Es ist Abraham, der die ganze Situation am Ende erklärt. Er spricht zum reichen Mann: Kind, erinnere dich: Du hast deinen Anteil an Gutem schon im Leben bekommen – genauso wie Lazarus seinen Anteil an Schlimmem. Dafür findet er jetzt hier Trost, du aber leidest.“

 

Abraham geht vom Prinzip des gerechten Ausgleichs aus: Jede und jeder bekommt am Ende gleich viel. Wer bereits im Diesseits sein Gutes bekommt, dem steht im Jenseits nur noch das Schlechte zu. Wer umgekehrt im Diesseits nur Schlechtes zugeteilt bekommt, darf im Jenseits das Gute genießen.

 

Dabei ist nicht die Rede davon, dass der Arme moralisch besser ist als der Reiche. Abraham geht es weder ums Gericht noch um ein moralisches Anprangern des Reichen. Es geht Abraham nur darum, dass am Ende die diesseitigen Verhältnisse radikal und endgültig umgekehrt werden.

 

Ein tröstlicher Gedanke ist dies einerseits: Für all diejenigen Menschen, die mehr Gewalt als Liebe, mehr Verachtung als Achtung im Leben erfahren haben.

 

Zum anderen ist es Trost für Gottes gute Schöpfung: Für die gerodeten und gefällten Bäume in den Regenwäldern dieser Welt und auch bei uns im Tagebaugebiet, wo Lebensraum für Mensch und Tier und Pflanzen unwiederbringlich zerstört wird.

 

Ja, da kann ich gut mitgehen: Es soll denen Gutes widerfahren, die Schlimmes erleiden müssen. Doch wie ist es umgekehrt? Der Gedanke, dass am Ende mit Leiden bezahlen muss, wem es hier gut ging, der befremdet mich andererseits. Und der reiche Mann tut mir am Ende auch leid. Hören wir also noch einmal genauer hin auf diese uralte Geschichte. Sie ist uns näher, als wir zunächst denken...

 

 

Jesus erzählt von der Hoffnung, dass erlebtes Unrecht ausgeglichen wird. Grenzen werden benannt und doch letztlich überwunden: Nämlich durch das WORT. Denn Abraham und der Reiche kommen ins Gespräch. Sie reden miteinander. Das Wort überwindet selbst den tiefsten Graben.

 

Abraham bezeichnet den Reichen als Kind. Als Kind Gottes. Und der Reiche erkennt, als er Lazarus in Abrahams Schoß sieht, worum es eigentlich geht: Um die Geborgenheit und das Ankommen. Um Nähe statt Ferne.

 

In seiner Erkenntnis beginnt der Reiche für andere zu bitten. Für seine Familie, für seine Brüder. Damit überwindet er seine inneren Grenzen. Er kommt heraus aus der sozialen Beziehungslosigkeit. Er beginnt, sich um das Wohl der anderen zu sorgen.

 

Und doch bleibt für mich da noch etwas offen bei dieser Geschichte: Wo ist und wirkt Gott in diesem ganzen Geschehen? Direkt genannt wird Gott jedenfalls nicht. Nur ganz im Verborgenen, im Namen Lazarus, wird Gott erkennbar. Lazarus: Das bedeutet soviel wie „Gott hilft”. Gott hilft: Das erlebt Lazarus indem er aufgenommen wird in den Schoß Abrahams. Gott hilft: Das erlebt der Reiche, indem er sich selbst erkennt – auch mit seinen Fehlern und Schwächen. Und: Indem er für das Wohlergehen anderer bittet, nicht nur für sich selbst.

 

Deshalb erzählt Jesus diese Geschichte neu. Jesus verbindet eine bekannte Geschichte durch den Namen Lazarus mit dem heilvollen Wirken Gottes in dieser Welt. Alltägliches und bekanntes liest Jesus neu im Lichte Gottes. Eine Verbindung entsteht zwischen dem Irdischen und Transzendenten, zwischen dem Hier und dem Dort, zwischen Ich und Du. Neulich klingelte Lazarus an unserer Tür. Löchrige Hose und Badelatschen. In der Hand ein großer Plastebeutel. Lazarus bekam Essen und eine Bleibe für die Nacht. Und ich? Ich wurde am Ende noch reicher beschenkt: Ich wurde herausgeholt aus dem Trott meiner alltäglichen Selbstverständlichkeiten. Ich tauchte ein in ein anderes Leben. Mein Horizont wurde weiter. Grenzen wurden vorsichtig überwunden für einen kostbaren Moment. Eine Begegnung zwischen Ich und Du. Und Gott.

 

Und der Friede Gottes, der größer und schöner ist, als all das, was wir wissen und verstehen, bewahre unsere Herzen in Christus Jesus. Amen.

 

(Predigttext: Lk16,19-31)

 

Es gilt das gesprochene Wort.

07.02.2018
Pfarrerin Jadwiga Mahling