„Von Eisen und Herzen“

Gottesdienst
„Von Eisen und Herzen“
Rundfunkgottesdienst aus der St. Marienkirche in Minden
23.04.2017 - 10:05
Über die Sendung

Kann das Herz abstumpfen wie ein altes Werkzeug? Ist dann nichts mehr zu erwarten? Kein Blick mehr für die Anderen und keine Empfindsamkeit mehr für Gott? Unter der Überschrift „Von Eisen und Herzen“ sucht der Gottesdienst am Sonntag nach Ostern nach Antworten. Wie können Menschen sich unterbrechen lassen in ihrem Alltag, um so etwas wie „die Spur Gottes in ihrem Herzen“ wiederzufinden? Pfarrer Frieder Küppers geht dem nach in seiner Predigt über Johannes 21,1-14. Das Evangelium erzählt davon, wie der auferstandene Jesus Christus dem Fischer Petrus und anderen Jüngern am See von Tiberias begegnet. Sie halten ein Mahl. Das Essen und Trinken und die Gemeinschaft verändern etwas.

 

Das erlebt auch die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde St. Marien, wenn sie ihre Türen öffnet für gemeinsame Feste und Feiern. Dann kommen Alte und Junge, Einheimische und Geflüchtete, Paare, Familien und Alleinstehende am gleichen Tisch zusammen. Gastfreundschaft wird in St. Marien großgeschrieben: „Wer möchte, findet bei uns eine Herberge auf Zeit, aber auch eine Heimat fürs Leben. Deshalb schaffen und erhalten wir Orte der Begegnung“, heißt es im Leitbild der Gemeinde. Drei aus dem Iran geflüchtete Gäste wirken wie selbstverständlich im Gottesdienst mit.

 

Die St. Marienkirche markiert mit ihrem mächtigen Turm den ältesten Siedlungsort Mindens, an dem seit mehr als 1000 Jahren kirchliches Leben zu finden ist. Neben verschiedenen Gottesdienstformen sind der Gemeinde Bildungsangebote sowie anspruchsvolle musikalische Angebote wichtig. Die Musik ist ein wichtiger Kulturträger in der Stadt. Die Gemeinde ist vernetzt mit der Anstaltskirchengemeinde und der Diakonie Stiftung Salem, der Mindener Tafel und dem ArbeitsLebensZentrum. Hier macht sie sich stark für Menschen in Not und ringt um soziale und politische Lösungen, um z.B. einer ausgeprägten Altersarmut in der Gemeinde begegnen zu können.

 

Musikalisch wirken im Gottesdienst mit: die Jugendkantorei, der Kammerchor und die Kantorei St. Marien unter der Leitung von Kantorin Anna Somogyi. Die Liturgie gestaltet Pfarrer Manuel Schilling. Die Predigt hält Pfarrer Frieder Küppers. Passend zum Gottesdienst haben Anna Somogyi und Manuel Schilling für die Jugendkantorei ein neues geistliches Lied geschrieben.

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Predigt

Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommen wird.

Jetzt war Petrus also wieder ein ganz normaler Fischer – nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Als Jesus noch mit den Jüngern unterwegs gewesen war, hingen die Menschen auch an seinen Lippen. Durch ihn, den Freund und Lehrer, hatte er das Gefühl bekommen, etwas Besonderes zu sein. Aber jetzt war Jesus nicht mehr da und Petrus war wieder einer von vielen – verwechselbar, gewöhnlich, unspektakulär. Die Nähe des Nazareners hatte ihm das Gefühl gegeben, die Welt verändern zu können. Jetzt war er wieder in der alten Welt gelandet, in der solche Gefühle keinen Platz hatten, in der das Besondere vom Gewöhnlichen geschluckt wird, in der die Eintönigkeit Alltag ist. Er war nicht mehr Menschenfischer, sondern fischte wieder Fische. Er roch wieder wie ein Fischer, kleidete sich wie ein Fischer, nämlich fast nackt, um im Notfall ins Wasser springen zu können. In dieser Welt war er auch nicht mehr Petrus, der Stein. Hier hieß er wieder Simon – auf Deutsch: „Gott hört mich“ – Doch hörte ihn Gott wirklich?

Dann taucht da am Ufer seines Alltags dieser eigentümliche Passant auf, einer vom Typ Besserwisser. Die ganze Nacht hatten Simon und seine Freunde die Netze ausgeworfen und nichts gefangen. Jetzt kommt der da und gibt er ihnen den Rat, die Netze nochmal auszuwerfen. Eigentlich zwecklos. Denn wer nachts nichts fängt, braucht es am Tag erst gar nicht zu versuchen. Alte Fischerweisheit. Doch dieser Rat zielt auf eine andere Weisheit: Nicht einfach immer nur so weiter, keine größeren Netze, keine größeren Kraftanstrengungen, nicht immer höher, schneller oder weiter. Es reicht, die Perspektive zu wechseln: „Werft das Netz auf der anderen Seite des Bootes aus.“ – So einfach und naheliegend der Rat, so überzeugend das Ergebnis: 153 Fische im Netz, das ist Rekord.

Gott begegnet mir in meinem Leben oft überraschend und unberechenbar.  Doch was zunächst fremd oder unsinnig scheint, kann eine neue Sicht öffnen. Johannes, der Jünger, den Jesus liebte, sieht als Erster. Liebe macht nicht nur blind. Manchmal macht Liebe sehend. Johannes sieht: Dieser Passant da am Strand ist nicht irgendwer, erst recht kein Besserwisser – „Es ist der Herr!“ erkennt er. Gott begegnet den Fischern mitten im Alltag, bei der Arbeit.

Eine Erfahrung, die Schule gemacht hat. So hat Martin Luther in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ festgehalten: Alle, die getauft sind, sind in Gottes Nähe. Egal, ob in der Kirche, im Stall, in der Werkstatt oder im Büro oder wie bei Petrus auf dem Wasser. Gott kommt zu uns. Manchmal dient er uns, indem er uns einen anderen Blick ermöglicht. Und dort, wo wir das zulassen und annehmen, entsteht Gottes Dienst. Für Martin Luther braucht der Gottesdienst nicht immer den Sonntag und die heiligen Räume. Gottesdienst kann auch im Alltag stattfinden, bei der Arbeit, an Orten, die auf den ersten Blick nichts mit Gottesdienst zu tun haben. In dieser Geschichte, am Ufer des Sees, erkennt Petrus Gott nicht. Er muss sich von Johannes auf ihn hinweisen lassen. Doch dann beginnt für ihn ein Kirchgang der besonderen Sorte: Über seinen nackten, verschwitzten Körper wirft er ein Obergewand, springt ins Wasser und schwimmt auf Jesus zu. Die Sehnsucht, in seiner Nähe zu sein, treibt ihn an. Die Sehnsucht nach Liebe ist schon Liebe, sagt Antoine de Saint-Exupéry. Die Sehnsucht, dem Freund und Lehrer nahe zu sein, ist schon Nähe. Schon im Wasser schwimmend weiß Petrus: Die Zeit mit Jesus ist nicht abgeschlossene Geschichte. Diese Geschichte hat eine Fortsetzung.

 

Die Sehnsucht ist die vergessene Spur Gottes in unserem Herzen, sagt der Wiener Theologe Paul Zulehner. Petrus entdeckt diese Spur durch eine Störung im Arbeitsablauf. Durch diese lästige Unterbrechung wird er gezwungen, seine Sicht zu ändern.

„Glaube nicht nur an das, was dir angenehm erscheint“, empfiehlt ein anderer Mann, nämlich der Geigenbauer Martin Schleske. Die Instrumente, die er baut, werden von weltweit konzertierenden Solisten gespielt. „Herztöne“ heißt ein Buch, dass Martin Schleske geschrieben hat. Darin beschreibt er, wie Gott ihm begegnet. Ungebeten, bei der Arbeit. Als er den Boden für ein neues Instrument ausstechen will, ist sein Werkzeug nur halb geschärft. Es zu schleifen würde eine Verzögerung des Ablaufs bedeuten. Also denkt er sich: „Es reicht schon noch.“ Er arbeitet mit dem halbstumpfen Hobel weiter. Doch er braucht viel mehr Kraft und das Ergebnis seiner unnötigen Mühe befriedigt nur halb. – Dieser Beschwichtigungssatz „Es wird schon reichen“ geht ihm nicht mehr aus dem Kopf.  Und noch etwas Anderes fällt ihm auf. Die Erfahrung mit dem halbscharfen Werkzeug lässt sich auch auf Herzensangelegenheiten übertragen. So spüren wir die Abgestumpftheit unseres Herzens und denken: Es reicht schon noch. Schleske schlägt in der Bibel nach und entdeckt: Es gab vor ihm schon einige Menschen, die ähnliche Erfahrungen mit halbstumpfen Herzen gemacht hatten. Im Alten Testament, Buch Prediger heißt es: „Wenn ein Eisen stumpf wird und an der Schneide ungeschliffen bleibt, muss man mit ganzer Kraft arbeiten. Aber die Weisheit bringt die Dinge in Ordnung.“ (Koh 10,10) Will sagen: Abgestumpft sein ist nicht in Ordnung. Plötzlich braucht man mehr Kraft. Oder flüchtet in Beschwichtigungen. Wohl dem, der einen anderen Blick wagt. Die Sehnsucht im Herzen findet. Neu auf das gleiche Leben schaut. Sich unterbrechen lässt, damit die Dinge sich wieder ordnen. Und im Epheserbrief werden vom Leben entfremdete Menschen als abgestumpft beschrieben.

Klar: „Es reicht schon noch“…  „Mut zur Lücke!“ – „Das passt schon.“ – Eigentlich sind das sehr sympathische Sätze, die in einer überspannten Situation Entspannung bieten können. Doch es gibt Zeiten, da können sie grundfalsch sein – nämlich dann, wenn sie Abgestumpftheit dulden oder sogar pflegen: Meine Augen sehen einen Hilfsbedürftigen, doch mein Herz und meine Hände bleiben unbewegt. Meine Ohren hören eine Unwahrheit, doch mein Mund bleibt stumm. Mein Gefühl sagt mir: Da stimmt etwas nicht. Doch in der Hektik geht dieses Gefühl verloren. Aus den Augen aus dem Sinn. Diese Abgestumpftheit zu dulden oder zu entschuldigen würde nichts verbessern oder entspannen. Der Kraftaufwand wird noch zunehmen und das Ergebnis trotzdem unbefriedigend sein.

Martin Schleske, der Geigenbauer, empfiehlt daher, die Abgestumpftheit des Herzens nicht zu dulden. Er sagt: „Man muss die Arbeit unterbrechen, um das Eisen zu schärfen… Das sind in unserem Leben die Auszeiten, … die ein gesunder Jahresablauf von uns fordert… Das sind die kurzen und doch unendlich heilsamen Minuten im Alltag. Geschärft zu werden, bedeutet, sich zu unterbrechen, damit Gott uns immer wieder für sich allein haben kann.“ Schleske hat in seiner Werkstatt einen Nebenraum, ein Kämmerchen eingerichtet. Hier hat er die Gelegenheit, mit sich und Gott allein zu sein. Hier lässt er sich unterbrechen, um sich schärfen zu können. Er weiß, dass dann nicht nur er selbst, sondern auch die Geigen, die er baut, besser klingen werden.

 

Petrus lässt sich unterbrechen. Durch den Hinweis des Passanten bekommt er eine andere Sicht vermittelt, er findet die vergessene Spur Gottes in seinem Leben. Diese veränderte Sichtweise verändert sein Leben. Als Fischer wäre er nie auf die Idee gekommen, nach Jerusalem zu gehen. In der neuen Gemeinde, die sich dort auf Jesus, den Nazarener beruft, findet er seinen Platz und eine neue Aufgabe. Sie wählt ihn mit Jakobus und Johannes, den anderen Fischern zu einem der wichtigsten Verantwortlichen. Auch wenn er sein Fischerhandwerk nie ganz ablegen wird, als Apostel ist er nun wieder Menschenfischer.

Aus der eigenen Welt herauszukommen, eine neue Sicht kennenzulernen, braucht die Fähigkeit sich zu öffnen. Wer heute Nachrichten und Kommentare im Internet verfolgt, am PC oder auf dem Handy, auf Nachrichtenseiten oder in den sozialen Netzwerken, der weiß, wie schnell man sich da in einer in sich geschlossenen Blase befindet. Die Seiten, denen man folgt, liefern einem nur noch die Meinung, die man sowieso schon hat. Der Rest wird nach und nach ausgeblendet. Nicht nur in rechtspopulistischen Kreisen lässt sich genau das beobachten. Der Brexit und der Verlauf der US-Wahlen wurden offenbar auch auf diese Weise beeinflusst. Deshalb überrascht es nicht, dass inzwischen schon Apps entwickelt werden zur Änderung der eigenen Sichtweise. Diese neuen Programme versprechen ihren Nutzern Einblick in eine bisher verborgene Welt, die Welt der politisch Andersdenkenden. Die eigene „Filterblase“, die nur noch die genehmen und vertrauten Nachrichten und Informationen kennt, wird gesprengt. Die Echokammer, die nur noch sich selbst und ihre eigenen Ansichten hören lässt, wird geöffnet.

Ob aber eine App helfen kann, aus dieser Echokammer auch heraus zu kommen, kann bezweifelt werden. Interessanter scheint die Idee des Petrus. Er lässt sich von dem fremden Passanten zum Essen einladen. Da sitzen sie vor dem Holzkohlefeuer und genießen den Fangerfolg. Sie ahnen, dass dieser Passant Jesus ist, wagen aber nicht, ihn danach zu fragen. Sie sind ängstlich, haben Zweifel – und suchen doch Gewissheit. Dann erleben sie die Gemeinschaft, sie essen und trinken miteinander, und das lässt Zweifel und Gewissheit zueinander finden.

Wir haben in unserer Gemeinde hier in Minden auch gute Erfahrungen mit solchen offenen Mahlzeiten gemacht. Am Heiligen Abend, vor dem letzten Weihnachtsfest, gab es hier im Gemeindehaus eine solche offene Mahlzeit, an der alle teilnehmen konnten, die Heilig Abend zusammen verbringen wollten. Nicht allein oder mit immer denselben, sondern in Gemeinschaft mit anderen. Einheimische und Geflüchtete, Alte und Junge, Verwitwete und noch Ledige trafen sich am gleichen Tisch. Noch lange wurde in der Gemeinde von diesem Mahl geschwärmt. Mancher sah plötzlich ganz anders aufs eigene Leben. Oder entdeckte diese Spur im eigenen Herzen, die Sehnsucht heißt. Eine, die dabei war, schrieb nachher: „Obwohl ich mich auf diesen „Heiligabend“ gefreut hatte, war ich etwas

skeptisch. Und dann ging alles ganz einfach, wie von allein. Als ich spät abends nach Hause ging, hatten das gute Essen und der Wein mich gesättigt und beschwingt und die erlebte Gemeinschaft mir die Seele gewärmt.“

Am vergangenen Sonntag gab es eine Wiederholung. Nach der Osternacht saßen wir in ähnlicher Runde zum Osterfrühstück hier im Gemeindehaus. Solche Tischgemeinschaften können zur Gewohnheit werden.

Kirche sollte wie eine gute Gaststätte sein, sagt der Theologe Jörg Zink. Offen für alle, die unterwegs sind und eine Pause einlegen wollen; für die, die sonst nur ihr eigenes Süppchen kochen und endlich neue Rezepte kennen lernen wollen; für alle, die Heimat oder Gewissheiten verloren haben und neue suchen wollen. So eine Tischgemeinschaft war es auch, die Petrus erlebte, als er vom fremden Freund Brot und Fisch gereicht bekam. Vielleicht dachte er auch an die Worte, die Jesus zu ihnen gesagt hatte: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, der muss nicht mehr Hunger leiden.“

Und der Friede Gottes, der alles Begreifen übersteigt, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn. Amen.