Im Heute Gottes leben

Im Heute Gottes leben
Zum 10. Todestag von Frére Roger
23.08.2015 - 07:05
26.07.2015
Pfarrer Thomas C. Müller

Die communauté de Taizé: Über hundert Brüder unterschiedlicher Konfessionen leben in dieser geistlichen Gemeinschaft zusammen und haben den kleinen Ort in der Nähe von Cluny weit über die Grenzen Frankreichs bekannt gemacht. Seit Jahrzehnten besuchen Zehntausende junger Menschen aus ganz Europa Taizé, um zu singen, zu beten, um Stille zu finden und miteinander über den Glauben und das Leben ins Gespräch zu kommen. Ökumenische Offenheit, Spiritualität und Solidarität für die Nöte der Menschen machen den besonderen Geist von Taizé aus. Dieser Geist wurde geprägt durch das Wirken des Schweizers Roger Schutz, genannt frère Roger, Bruder Roger. Er war der Gründer und erste Prior der ökumenischen Gemeinschaft. Am 12. Mai wäre frère Roger hundert Jahre alt geworden. Vor fast genau 10 Jahren, am 16. August 2005, wurde er während eines Freitagsgebetes von einer verwirrten Frau durch einen Messerstich / drei Messerstiche tödlich verletzt. Aus Anlass des Gedenkjahres kamen Anfang Juni gute tausend Menschen in den Berliner Dom, um eine Nacht der Lichter zu feiern und sich von frère Alois, dem heutigen Prior, an den Gründer der communauté de Taizé erinnern zu lassen und den Spuren seines Lebens nachzugehen.

 

Frère Roger wurde als Roger Louis Schutz-Marsanche am 12. Mai 1915 in der französischsprachigen Schweiz in dem kleinen Dorf Provence im Kanton Waadt geboren, unweit von Neuchatel. Er war das jüngste von neun Kindern. Sein Vater war reformierter Pfarrer, seine Mutter entstammte einer burgundisch-protestantischen Familie. Eine intensive Frömmigkeit prägte das Zusammenleben der Familie, allerdings ohne jene konfessionelle Enge, die damals in vielen Häusern zu finden war. Die natürliche Vertrautheit mit beiden damals noch streng getrennten konfessionellen Welten beflügelte seine spätere, lebenslange Leidenschaft für die Einheit der Kirche. Eine kirchlich geprägte Kindheit, ein Theologiestudium, später die Gründung einer geistlichen Gemeinschaft – man könnte annehmen, dass frère Roger einen bruchlosen Glaubensweg gegangen ist. Frère Alois hat den Weg seines Vorgängers viele Jahrzehnte begleitet. Anlässlich seines Berlinbesuches im Juni habe ich mit dem heutigen Prior gesprochen und ihn gefragt, ob es im Leben von frère Roger auch Phasen des Zweifels gegeben hat.

 

Alois: „Ja, ganz, ganz existenziell und tief, als Jugendlicher noch. Besonders in der Zeit als er an Tuberkulose erkrankt war und passiv leben musste. Und in dieser Zeit hat er sich wirklich Glaubensfragen ganz tief gestellt. Wer ist Gott? Wer ist Christus? Auch weil er… weil für ihn das Leben der Kirche wenig überzeugend war in der Zeit. Es klaffte so auseinander, ja, was Christus gesagt hat und was die Kirche zeigt. Und das war eine schwere Zeit für ihn … Und deshalb konnte er Menschen verstehen, die eine solche Zeit durchmachen. Es war für ihn auch immer wichtig mit Nichtglaubenden im Gespräch zu sein.“

 

Trotz der persönlichen Erschütterungen studiert Roger weiter Evangelische Theologie in Lausanne und Straßburg. Sein Blick war von Anfang an nicht nur auf die evangelischen Quellen gerichtet, sondern bezog das Studium insbesondere auch der monastischen Traditionen mit ein. Die Idee von einem gemeinsamen Leben faszinierte ihn.

 

Alois: „Er hatte den Eindruck dass die Theologie zu individualistisch gemacht wird und dass sich das nicht bewährt in Gemeinschaft, in einem gemeinsamen Leben und das war dann in seiner Studentenzeit ein großes Anliegen, Menschen zusammenzubringen, auch Theologen zusammenzubringen, nicht als Einzelkämpfer, sondern: Christus hat Gemeinschaft gestiftet. Und da gibt es ja eine schöne Parallele, die erstaunlich ist, zu Dietrich Bonhoeffer, der zur gleichen Zeit diesen Gemeinschaftsgedanken stärker in die Kirche einbringen wollte.“

 

Im August 1940 reiste Roger in das Frankreich der Vichy-Regierung und nutzte die Gelegenheit, um in Cluny nach einem geeigneten Haus zu suchen, um die Idee eines gemeinsamen Lebens zu verwirklichen. Er fuhr in das nahegelegene Dorf und traf die Besitzerin eines baufälligen Hauses. Sie sagte zu ihm: „Bleiben sie bei uns! Wir sind arm und einsam, die Zeiten sind schlecht.“

 

Und tatsächlich: Im September kehrte Roger nach Taizé zurück und kaufte das Haus, das wenige Kilometer von der Demarkationslinie zum besetzten Frankreich entfernt lag. Es dauerte nicht lange und die ersten Flüchtlinge trafen in Taizé ein. Roger fragte nicht nach Dokumenten, fing alleine an, die Felder zu bestellen und die Kühe zu melken. Gebet und Gastfreundschaft musste er zunächst alleine zu leben beginnen. Dennoch kamen im Laufe der Zeit immer mehr Flüchtlinge an. Die Situation wurde zunehmend gefährlicher. Auch für Roger eine Zeit der Angst. Tatsächlich wurde am 11. November 1942 das Haus durch die Gestapo besetzt und die Flüchtlinge wurden abtransportiert.

 

 

Der Rückschlag im November 1942 hätte auch das frühe Ende der Idee von Taizé sein können. Aber schon hier zeigte sich, dass die Motivation frère Rogers nicht in einem naiven Idealismus bestand, sondern in dem, was er später „Vertrauen“ nannte. Vertrauen – gerade im Angesicht schwieriger äußerer Umstände. Bis heute ist das für die Communauté de Taizé der zentrale Ausgangspunkt in der Begegnung mit Menschen über alle Grenzen hinweg.

 

Alois: „Und das hat frère Roger auch selbst so gelebt, wirklich ja, dieses Vertrauen ist nicht ein leichter Weg gewesen für ihn. Er hat viel vom Vertrauen gesprochen, aber das erforderte ein großes Engagement. Das Vertrauen, dass Gott da ist. Dass Gott da ist und dass in der Geschichte manchmal das Unmögliche möglich wird. Ich denke zum Beispiel daran wie schwer es für frère Roger war diese Trennung Europas hinzunehmen. Und es war unmöglich diese Trennung einfach hinzunehmen, aber was tun? Das war so eine Unmöglichkeit, eine Ohnmacht. Was tun angesichts dieser Grenze? Und die Brüder haben einfach angefangen Besuche zu machen. Das ist eigentlich nichts. Aber das ist nicht Nichts. Das ist Etwas. Und so sind im Laufe von Jahrzehnten viele Kontakte entstanden. Es braucht vielleicht auch noch stärker Gemeinschaft unter den Christen, dann wird auch diese Ohnmacht nicht mehr so übermächtig, wenn wir, wie wir es bei den Treffen in Taizé auch geschieht, dass Jugendliche merken, zum Beispiel zwischen den Ukrainern und Russen: Es gibt Menschen die einander verstehen können. Es gibt auf beiden Seiten Menschen, die wirklich Frieden wollen. Es gibt auf beiden Seiten Menschen, die nicht nur bei einem schlechten Gewissen stehen bleiben, sondern, die bereit sind in ihrem Bereich das Mögliche zu tun.“

 

 

Im November 1942 kehrte Roger zunächst wieder in die Schweiz zurück. Noch musste er sein Studium beenden. Der Titel seiner Examensarbeit lautete: „Das Ideal des monastischen Lebens bis zur Zeit des heiligen Benedikt und seine Übereinstimmung mit dem Evangelium“.

 

Während der Beschäftigung mit dieser Thematik konnte er bald auch andere für die Idee des gemeinsamen Lebens gewinnen. Die Mitstudenten Max, Pierre und Daniel schlossen sich bald seinem Experiment an. Man zog in eine gemeinsame Wohnung in Genf und probte die geistliche Lebensgemeinschaft. Frère Roger schrieb dazu im Rückblick.

 

„In unserem Haus in Genf hatten wir viele Besucher, Menschen auf der Flucht, andere, die gerade während der Zeit des Widerstandes die Grenze wechselten. Unsere Tür stand für alle offen, und auch an unserem Tisch war für alle Platz; und wir beteten sehr sehr viel in jener Zeit.“

 

Nach der Befreiung Frankreichs 1944 kehrte Roger wieder zurück nach Taizé – diesmal jedoch nicht allein, sondern mit den ersten vier Brüdern aus Genf zusammen. Die einheimische Bevölkerung stand dieser christlichen Lebensgemeinschaft skeptisch gegenüber. Dazu trug auch das gemeinsame Gebet mit deutschen Kriegsgefangenen bei, die in der Nähe interniert waren. Die Leute hatten kein Verständnis dafür, dass diejenigen, die vor kurzem noch Feinde gewesen waren, jetzt die Gastfreundschaft der Brüder erfuhren.

 

In dieser Zeit verfasste Roger die erste Lebensordnung für die Gemeinschaft, die die Grundlage für die spätere „Regel von Taizé“ bildete. Sie sollte nur ganz elementare Weisungen beinhalten:

 

“Lass in deinem Tag Arbeit und Ruhe von Gottes Wort ihr Leben empfangen.

Wahre in allem die innere Stille, um in Christus zu bleiben.

Lass dich durchdringen vom Geist der Seligpreisungen: Freude, Einfalt, Barmherzigkeit.“

 

 

Das tägliche Gebet, die Bewirtschaftung der Felder und die Sorge für Kriegswaisen prägten die ersten Jahre der Gemeinschaft von Taizé. Die kleine katholische Dorfkirche konnte als Gebetsort gewonnen werden. Das war ein erster ökumenischer Erfolg. Von Anfang an sah Frère Roger die Gemeinschaft als ein Zeichen der Einheit der Christenheit. Dies bedeutete aber auch, dass keiner gezwungen werden sollte, seine konfessionelle Heimat aufzugeben. Ein Grundsatz, der bis heute grundlegend für das Zusammenleben der communauté de Taizé ist. Dass man den ökumenischen Gedanken eines exemplarischen Lebens der Einheit der Kirche auch über Taizé hinaus ernst nahm, zeigte die Begegnung frère Rogers mit dem späteren Papst Johannes dem XXIII. ebenso wie die die Einladung einer Delegation aus Taizé zum 2. Vatikanischen Konzil. Freilich ließen diese Verbindungen – gerade in evangelischen Kirchenleitungen – auch später immer wieder die Befürchtung aufkommen, wichtige evangelische Positionen würden preisgegeben. Ein Verdacht, der verkennt, wie stark frère Roger reformatorische Anliegen in die Gemeinschaft einbrachte. Frère Alois, selbst Katholik, erläutert, welch große Bedeutung das reformatorische Erbe in Taizé bis heute hat.

 

Alois: „Die Gegenwart Gottes entdecken, die mich frei macht, die mich da sein lässt. Ich selbst habe das auch ganz konkret in Taizé erlebt. Dieses einfache Dasein können. Und ich glaube, darin ist etwas ganz tiefes vom reformatorischen Erbe in Taizé lebendig. Dieses Dasein-Können, das Angenommen-sein. Gott ist nur Liebe, sagte er. Auch im Vertrauen, dass Gott in den anderen Menschen schon da ist. Nicht ich muss Gott bringen, sondern Gott ist schon da. Frère Roger hat ganz tief diese Gewissensfreiheit gelebt und ich glaube das ist etwas, was Jugendliche auch heute noch in Taizé spüren. Und was sicher etwas mit dem reformatorischen Erbe zu tun hat. Auch die Christozentrik ist etwas sehr reformatorisches und was in Taizé ganz, ganz wichtig ist: auch die Bibel. Ich selbst habe die Bibel erst richtig in Taizé kennengelernt.“

 

Der Zulauf gerade von jungen Menschen wurde in den 1960er Jahren – auch im Zuge der 68-Bewegung – immer stärker. 1974 fand ein Konzil der Jugend mit über 40.000 Jugendlichen aus aller Welt statt.

 

Die Anziehungskraft, die die Gemeinschaft von Taizé auf viele Jugendliche damals auszuüben begann, lag besonders in der Verbindung zweier in der Kirche damals lange als unvereinbar geltender Pole der christlichen Existenz: der persönlicher Frömmigkeit auf der einen Seite und des politischen Eintretens für Gerechtigkeit auf der anderen Seite. „Kampf und Kontemplation“ lautete das Schlagwort. Ein Verbindung, die in Taizé durch frère Roger bis heute grundlegend geblieben ist, auch wenn sich der kämpferische Ton der damaligen Zeit später abmilderte.

 

Alois: „Das bleibt ganz wichtig, auch wenn wir andere Ausdrücke dafür benützen. Wir sprechen in Taizé jetzt mehr, und das hat noch frère Roger getan, vom inneren Leben und Solidarität mit anderen. Kampf für Gerechtigkeit, Kampf gegen Armut, Kampf auch jetzt für eine Bewahrung der Schöpfung, das ist ganz entscheidend für die Zukunft der Menschheit, aber es muss zusammengehen mit einer Verwurzelung. Sonst besteht die Gefahr, dass wir für uns selbst kämpfen. Dass wir für unsere Ideen kämpfen, dass wir für unsere Sachen kämpfen, und wenn es nicht eine Verwurzelung in etwas Objektiverem gibt, in etwas Größerem gibt, und das ist die Kontemplation, dass wir Glauben als ein inneres Leben entdecken. Glauben ist zunächst nicht etwas tun, etwas Neues tun, sondern etwas entdecken.“

 

 

Generationen von jungen und auch älteren Menschen wurden und werden durch Taizé geprägt. Als Grenzüberschreiter, Versöhner und Mahner der Solidarität mit den Schwächsten besitzt das Lebenszeugnis frère Rogers gerade heute eine brennende Aktualität. Viele Menschen, aber auch Kirchen, Religionsgemeinschaften und ganze Völker ziehen sich heute wieder stärker hinter ihre jeweiligen Grenzen zurück. Der allgemeine Apell zur gegenseitigen Toleranz scheint dabei seine Kraft zu verlieren. Für Christen wegweisend erscheint mir deshalb, dass frère Rogers Offenheit und Bereitschaft zur Begegnung sich gerade aus seiner inneren Glaubensbindung an Jesus Christus selbst speiste, eines Christus freilich, dessen Wesen / der ins Offene weist.

 

Alois: „Ich muss vielleicht dazu sagen, dass für ihn Christus auch immer der war, der vorausgeht. Den wir nicht ganz kennen. Der, der größer ist, als alles was wir auch theologisch verstehen können. Und insofern war frère Roger auch sehr offen für, dafür, wie Menschen in anderen Religionen Spiritualität leben. Und ich glaube, er hat uns das auch als Erbe hinterlassen, je tiefer wir in Christus verwurzelt sind, desto offener werden wir für alles, was menschlich ist, auch bei den anderen.“

 

Daneben entdecke ich selbst frère Roger in seinen Schriften auch als einen Lehrer der Alltagsspiritualität. Menschen suchen ja heute wieder nach Traditionen, die ihnen helfen, die eigene Mitte zu finden; und sie erwarten dabei meist wenig Hilfe aus den christlichen Traditionen. In der Begegnung mit frère Roger stoßen sie auf einen reichen Schatz geistlicher Erfahrungen aus den oft verschütteten Quellen des christlichen Glaubens. Ich wünsche mir, dass seine Schriften auch in dieser Hinsicht neu gelesen werden. Sie sind eine große Ermutigung, das eigene Leben und den Alltag immer wieder in die erneuernde Gegenwart Gottes zu stellen und daraus Kraft zu schöpfen, um ganz in der Gegenwart zu leben – , im Heute Gottes, wie frère Roger sagt.

 

„… das christliche Leben ist nichts anderes als Neubeginn, ein tägliches, ja manchmal stündliches Zurückkehren in die Gnade dessen, der nach jedem Versagen verzeiht, um alle Ding neu zu machen.“ (Frère Roger, Im Heute Gottes Leben, S. 43)

26.07.2015
Pfarrer Thomas C. Müller