Ja oder nein, ganz oder gar nicht

Palmzweige

Gemeinfrei via unsplash/ Tim Mossholder

Ja oder nein, ganz oder gar nicht
Die radikalen Seiten Jesu
28.03.2021 - 07:05
27.03.2021
Susanne Krahe
Über die Sendung:

Der "Feiertag" im DLF zum Nachhören und Nachlesen.

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Schließlich gab ich auf. Ich ließ mich einfach auf den Boden sinken. Ich bemühte mich gar nicht mehr, mit der Gruppe Schritt zu halten. Meine Beine schafften den Anstieg nicht, jedenfalls nicht in dem Tempo, das ihnen aufgezwungen wurde. Bergauf ging es, immer steiler bergauf, und die Luft wurde mit jedem Atemzug dünner. Während mein Herz zu stottern anfing, hefteten sich meine Augen an die Hinterköpfe der anderen, die immer kleiner wurden, immer grauer. War das möglich? Niemand drehte sich nach mir um. Niemandem von meinen Freunden schien überhaupt aufgefallen zu sein, dass ich zurück geblieben war.

 

Seit Tagen sank meine Stimmung. Es hatte Momente gegeben, da bereute ich zutiefst, mich je auf die Wanderung nach Jerusalem eingelassen zu haben. Sie war schlicht zu anstrengend für mich. Jeden Morgen grämte ich mich darüber, noch vor der Dämmerung aus dem Schlaf gejagt zu werden, nur um mich einen ganzen Sonnenlauf lang erneut hinter diesem Menschen her hetzen zu lassen. Je näher wir der Hauptstadt kamen, desto gnadenloser trieb er uns an.

„Vorwärts!“ hieß es dauernd.

 

Nicht mal für die kleinen Pausen, in denen wir uns bislang immer zu einem Schwätzchen zusammengesetzt hatten, blieb Zeit. Dabei war es doch gerade diese gesellige Muße gewesen, die mich in den Bann dieser Gruppe gezogen hatte. Dort durfte man stundenlang in der Sonne liegen, hatte es geheißen, wie die Blumen auf den Feldern aufblühen, man musste weder säen noch ernten, brauchte aber trotzdem nicht zu hungern. Sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, war an der Tagesordnung. Ich interessierte mich für die anderen, andere interessierten sich für mich. Wie sehr unsere Eintracht Zwietracht in unsere Dörfer streute, bemerkten wir nicht, oder es bestärkte uns in den neuen Wegen, die unser Meister uns zeigte.

 

Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.

Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder?

Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!

Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
(Mk 3,31-35)

 

Wie stolz war ich gewesen, dass seine Fingerspitze auch mich als Teil seiner wahren Verwandtschaft ausgezeichnet hatte! Die echten Verwandten zogen ab wie geprügelte Hunde. Doch das rang mir nur ein Schulterzucken ab. Warum waren nicht auch sie zu dem Rabbi übergelaufen, zu Jesus und seinem alternativen Lebensstil? Aber nein, seine Brüder und Schwestern krochen in ihren Handwerksbetrieb zurück, um all die Tischplatten auszumessen, die bei ihnen bestellt und angezahlt worden waren. Klar, dass solche Leute sich nur am Schabbat für Gottes Willen interessierten. In der Szene der Jesusjünger dagegen war jeden Tag Schabbat. Jede ausstaffierte Höhle, jedes gepolsterte Familiennest fanden wir überflüssig, und jede von uns bekam hin und wieder vorgeführt, dass mitunter nicht der Anstand, sondern der Aufstand angesagt war. Solange wir durch die galiläischen Dörfer schlenderten, fand ich die hohen Ansprüche unseres Meisters für alle Menschen guten Willens erfüllbar. Die zehn Gebote halten: War das etwa eine Zumutung? Darüber hinaus auf Privateigentum verzichten? Kein Problem. Wer sein Herz an Gut, Geld und Ehre hängte, passte nicht zu unserer verschworenen Gemeinschaft. Jetzt oder nie, ganz oder gar nicht, wenn schon, denn schon. Na und?

 

Mittlerweile war ich selbst aus dem Kreis der Insider in den Straßenstaub gefallen und zwang mich, meinen ehemaligen Freunden nicht allzu sehnsüchtig hinterher zu schmachten. Unter der Massage meiner Hände lösten sich allmählich die Krämpfe aus meinen Waden. Das Experiment war misslungen. Ich war kein Aussteiger-Typ, wie mir jetzt klar wurde. Längst hätte ich einen Schlussstrich unter diese Episode meines Lebens ziehen müssen. – Wie bequem hätte ich es in meinem galiläischen Dorf haben können, im Kreis meiner Kinder und Enkel, umringt und umhegt von genügsamen Ziegen. Die reinste Idylle! Ich hatte alle Bindungen gekappt; war, statt Mutter und Vater zu begraben, am See Genezareth auf Menschenfang gegangen. Was uns in Jerusalem erwartete, wagte ich mir noch gar nicht vorzustellen. Während ich mich in mein altes Leben zurück träumte, stellten sich zwei Pilger neben mich. Die Männer hatten sich aus dem engsten Kreis um Jesus gelöst, um in die Richtung zurück zu wandern, aus der wir gekommen waren. Ob sie mich erkannten? Ob wenigstens diesen beiden Jüngern klar war, dass auch ich bis vor kurzem zu ihrer Anhängerschar gehört hatte? Jedenfalls legte der Eine mir seine Hand auf den Oberarm, half mir auf die Füße, und fragte dann, ob ich sie vielleicht begleiten wolle.
Wenn ich geahnt hätte, dass sie immer noch im Auftrag Jesu unterwegs waren, hätte ich abgewunken. Ich war es leid, Erfüllungsgehilfin für verstiegene Ideen zu sein.

 

Und als sie in die Nähe von Jerusalem kamen, bei Betfage und Betanien am Ölberg, sandte er zwei seiner Jünger und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt. Und alsbald wenn ihr hineinkommt, werdet ihr ein Füllen angebunden finden, auf dem noch nie ein Mensch gesessen hat; bindet es los und führt es her! Und wenn jemand zu euch sagen wird: Was tut ihr da? so sprecht: Der Herr bedarf seiner, und er sendet es alsbald wieder her. Und sie gingen hin und fanden das Füllen angebunden an einer Tür draußen am Weg und banden's los.

(Mk 11,1-4).

 

„Aber das ist Diebstahl!“ entfuhr es mir, als einer meiner Begleiter sich an dem Seil mit dem Esel zu schaffen machte und das Tier losband. Eh ich mich versah, lag der Strick in meiner Hand und klagte mich als Diebin an. Sein Freund versuchte mich zu beruhigen. Wenn hier überhaupt solche spießigen Kategorien Anwendung fanden, dann wohl eher die einer Leihgabe. „Wir werden das Tier ja wieder zurück bringen, sobald es seinen Zweck erfüllt hat“, erklärte er mir. Und zweifelsohne war dieser Zweck so heilig, dass er sogar kriminelle Mittel zuließ.

Zwei Stunden später, als wir die gesammelte Jüngerschar eingeholt hatten, schwante mir, wozu dieses Eselchen benutzt werden sollte. Es musste als ein Zeichen her halten. Uralte Prophezeiungen vereinnahmten es als fleischgewordene Anspielung auf Gottes Plan mit Israel. Der Messias bedurfte seiner. Ein Esel hatte den künftigen König zu seinem Thron zu transportieren. Da half kein Bocken. Jesus ließ den mageren Rücken des Tieres mit Umhängen polstern, ließ sich auf diesem Sattel nieder, und als das verstörte Tier unter dem Gewicht zu wanken begann, versetzte er ihm rasch die Sporen. „Jerusalem, wir kommen!“ rief er, und nach wenigen Schritten war aus einem harmlosen Pilgerzug eine Prozession geworden.

 

„Hosianna“, jubelte eine wachsende Menschenmenge einem Zimmermann aus Nazareth zu. „Gelobt sei, der da kommt im Namen Gottes!“ Und die Leute breiteten ihre Umhänge vor den Hufen des Esels aus. Fast hätte ich mich von dem Applaus der Menge anstecken lassen. Offenkundig traute unser Rabbi sich zu, den römischen Besatzern das Zepter König Davids zu entreißen, um es höchst eigenhändig über Gottes Volk zu schwingen. Aber war das nicht eine oder gleich mehrere Nummern zu groß? Und wie würden die Römer auf eine Demonstration von Gauklern, Witwen und Bettlern reagieren? Ein paar Soldaten sah ich lachen. Ein paar Würdenträger schüttelten den Kopf. War dieser Einzug in Jerusalem ein Witz, oder markierte er den Beginn eines Aufruhrs? Das Tempo der närrischen Prozession nahm zu, ihre Teilnehmer übten sich mehr und mehr im Gleichschritt; fehlte nicht viel, und die Wanderung wäre zum Marsch ausgeartet.

 

Irgendeine extreme Wendung hatte ich schon lange befürchtet. Ein Dutzend Szenen drängten sich meiner Erinnerung auf: Jesus beim Einsammeln von Fischern, die ihre Familien ohne Ernährer zurück ließen; Jesus, umringt von Blinden und Hinkefüßen, die diesem Menschen die Macht über Dämonen zutrauten. Es war ein Funke in seinen Augen, der übertriebene Hoffnungen in den Leuten weckte. Aber als er auf dem gestohlenen Esel den Ölberg hinab ritt, war dieses Glühen erloschen. Seine Beine hingen schlaff vom Sattel herab. Die Leute begrüßten ihn mit jubelndem Psalmengesang, aber er grüßte nicht zurück, hob nicht ein einziges Mal seine Hand. Wer trieb hier noch an, wer wurde getrieben? Fragte ich mich. Glaubte er an sich selbst als den König, oder glaubten nur die Pilgerinnen und Pilger, dass er der neue David sei?

 

Ich hätte den Tross gern aufgehalten, um ihm diese Frage zu stellen. Aber das Geschehen hatte seine eigene Dynamik entwickelt und war nicht mehr aufzuhalten. Müde trottete ich hinter der Prozession den Berg hinunter bis zum Osttor. Dort stand plötzlich wieder der kleine Esel vor mir. Sein Reiter war abgestiegen und in dem Gewimmel verschwunden, das für die Tage vor dem Passafest typisch war.

 

„Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt im Namen Gottes!“ Es war nicht das erste Mal, dass Jesus sich mit König David verglich. Bereits kurz nach unserem Aufbruch durch Galiläa hatte er einen Gesetzesbruch mit dem Vorbild des großen Königs gerechtfertigt. Wenn David die Schaubrote aus dem Tempel stehlen durfte, um den Hunger seiner Kameraden zu stillen, erklärte er, dann durften auch wir uns am Weizen vergreifen, obwohl es am Schabbat war. Sprachs und stopfte sich selbst die Backen mit Weizenkernen voll. Natürlich gab es Ärger mit ein paar frommen Mitbürgern. Aber auch über deren Zorn konnte unser Rabbi nur lachen.

 

Was für ein Selbstbewusstsein! Es hatte mich immer gewundert, wie sicher sich Jesus geben konnte. „Ich aber sage euch…!“ posaunte er vollmundig ins Publikum, und brachte mit seiner Besserwisserei jeden Pharisäer zum Schweigen, drehte jedem Schriftgelehrten das Gesetzeswort im Munde um. Plötzlich sollte nicht mehr gelten, was seit Jahrtausenden für Recht und Ordnung sorgte. Nicht erst Mord, sondern schon eine Beleidigung sollte eine Verfehlung sein, nicht erst Ehebruch, sondern bereits lüsterne Gedanken? „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.“ Absurd! Gefährlich! Ich hatte solche Sätze nie richtig ernst nehmen können; vielleicht, weil ich meine Gegnerinnen und Feinde einfach nicht zu lieben imstande war, je heftiger ich mich auch bemühte. Vielleicht aber auch, weil unser Anführer selbst alles andere als liebevoll mit Menschen umging, die anderer Meinung waren als er. Auch seine Nachfolger mussten sich vorsehen. Widerworte? Lieber nicht. Bedenkenträgerinnen fanden sich bald im Abseits wieder.

 

Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich! (Mt 12,30)

Eure Rede sei „Ja, ja“ oder „nein, nein“; Was darüber ist, ist vom Bösen. (Mt 5,37)

 

Als ob die Welt sich so einfach in Gut und Böse, Richtig oder Falsch einteilen ließ! Zum ersten Mal traute ich mich, diese Weltsicht als das zu benennen, was sie war: Schwarzweiß-Malerei. Sie wurde nicht mal den Schattierungen gerecht, die die Mauer um die Heilige Stadt im Lauf von Jahrtausenden angenommen hatte. Jerusalem war eine vielseitige, architektonische Landschaft, viel gewaltiger als zur Zeit Davids, und überdies von einer Internationalität geprägt, die dem ersten König kaum ins Konzept gepasst hätte. Trotzdem befürchtete ich, dass Jesus, in Davids Namen und Davids viel zu großen Schuhen, das Osttor nur durchschritten hatte, um innerhalb der Prachtbauten gleich wieder Streit zu suchen. Ich kannte ja seine Aversion gegen die meisten Pharisäer und Schriftgelehrten, vor allem gegen die Sadduzäer. Er ließ kein gutes Haar am Establishment. Ich kannte auch seine provozierende Rhetorik. Wahrscheinlich schleuderte er die Schimpftiraden jetzt unseren gebildeten Frauen und Männern direkt an die Stirn.

 

Verführer!

Falsche Propheten!

Heuchler!

Verblendete Blender!

Ihr Schlangenbrut. Ihr Otterngezücht.

(Aus Mt 23 -24)

 

Das Eselsjunge steckte ängstlich seinen Kopf in meine Ellenbeuge. Es war hungrig und vermisste seine Mutter. Ich streichelte ihm über seine Nüstern. Dann kletterten wir zwei Verlassenen den Ölberg wieder hinauf.

Am folgenden Tag strömten noch mehr Pilger in die Stadt. Auch die Jesusleute hatten sich erneut in das Gewimmel und Getöse gestürzt, das jedes Jahr das Passafest einleitete.

 

Und sie kamen nach Jerusalem. Und Jesus ging in den Tempel und fing an, hinauszutreiben die Verkäufer und Käufer im Tempel; und die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler stieß er um und ließ nicht zu, dass jemand etwas durch den Tempel trüge.

Und er lehrte und sprach zu ihnen: Steht nicht geschrieben: "Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker"? Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht.

Und es kam vor die Hohenpriester und Schriftgelehrten, und sie trachteten danach, wie sie ihn umbrächten. Sie fürchteten sich nämlich vor ihm; denn alles Volk verwunderte sich über seine Lehre.

(Mk 11,15-18)

 

Den Skandal im Tempel-Vorhof bekam ich nicht mehr als Augenzeugin mit. Meine Informationen schöpfte ich aus der brodelnden Gerüchteküche, die ihr Gift bis in Jerusalems Vororte spritzte. Einer der Mitläufer, hieß es, wurde versehentlich unter einem umgestoßenen Stand begraben, und jemand meinte beobachtet zu haben, dass die auffliegenden Tauben dem Aufrührer selbst ihre ätzenden Nachlässe auf dem Gewand hinterließen. So war das eben mit der Gewalt: Sie setzte eine Spirale von Fausthieben und Lügen in Gang, die sich verselbstständigten. Dass Jesus persönlich einen Händler an der Gurgel packte, glaube ich nicht. Aber dass er den Tempel als „Räuberhöhle“ beschimpfte, ja, das passte zu seinen gelegentlichen verbalen Missgriffen.

 

Ja, ich hatte es längst geahnt. Diese Wanderung nach Jerusalem endete in einer Katastrophe. Gut, dass ich mich rechtzeitig abgesetzt hatte, hätte ich denken müssen, und meine Erleichterung darüber genießen, unseren großen Lehrer zuletzt weder verraten, noch verleugnet oder verlassen zu haben. Ich war keine Aussteigerin. Es tat mir weh, meine Furchtsamkeit eingestehen zu müssen, meine Unfähigkeit aufs Ganze zu gehen. Aber der lange Fußweg zurück an den See reichte nicht aus, mich darüber zu trösten.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
1. Anouar Brahem/ Blue Magams, Nuba, CD-Titel: Le Voyage de Sahar

2. Anouar Braham/ Blue Magams, La Chambre, CD-Titel: Le Voyage de Sahar

3. Anouar Braham/ Blue Magams, La Chambre, CD-Titel: Le Voyage de Sahar

4. Anouar Braham/ Blue Magams, Zarabanda, CD-Titel: Le Voyage de Sahar

5. Anouar Braham/ Blue Magams, Zarabanda, CD-Titel: Le Voyage de Sahar

6. Anouar Braham/ Blue Magams, Cordoba, CD-Titel: Le Voyage de Sahar

7. Anouar Braham/ Blue Magams, Cordoba, CD-Titel: Le Voyage de Sahar

8. Anouar Braham/ Blue Magams, Vague (Var.), CD-Titel: Le Voyage de Sahar

 

27.03.2021
Susanne Krahe