Jesu letzte Worte

Feiertag

Bild: Kreuzigung, Anonymer valenzianischer Künster, vermutlich Niccolò Antonio Colantonio, zw. 1450-1460

Jesu letzte Worte
Streit unter Gekreuzigten
10.04.2020 - 07:05
09.04.2020
Susanne Krahe
Über die Sendung:

Wenn man sich den beiden neben Jesus gekreuzigten Übeltätern mit etwas Phantasie nähert, kann sich das Geschehen auf Golgatha in zwei starken Figuren widerspiegeln. Wenn man ihnen verschiedene Stimmen gibt, kann ein Dialog entstehen, in dessen Verlauf die Kreuzesworte Jesu besondere Resonanzen erzeugen. Resignation, Zynismus, Wut, Ergebenheit, Stoff für Identifikation.

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Sendung nachlesen:

„Es wurden aber auch andere hingeführt, zwei Übeltäter, dass sie mit ihm hingerichtet würden.

Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. (…)

Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes.“

 (Lk 23,32-35)

 

Die ersten Sekunden sind die schlimmsten, wird behauptet; wenn sie das Kreuz in die Senkrechte stemmen. Dann sackt das Blut in die Beine, und das ist der schlimmste Moment. Wer diese ersten Sekunden der Folter übersteht, heißt es, hat den Zenit der Schmerzen schon überschritten.

 

Woher wollen die das eigentlich wissen? Klugscheißer!

 

Zuerst kommt der Schmerz, wird behauptet, dann die Angst, dann die Wut, dann wieder Angst, dann eine Starre und Taubheit, die andere mit Aufgeben verwechseln, dann noch mal die Angst, dann die schiere Verzweiflung und immer wieder: Angst, Angst, Angst. Aber zum Schluss ist einem alles egal. Es soll nur noch vorbei sein.

 

Ein paar Etappen hast du unter den Tisch fallen lassen, Nachbar! Den Wahnsinn zum Beispiel, die Hysterie: Die hast du vergessen. Im Moment habe ich nur noch Durst. Ich könnte jetzt schon durchdrehen vor Durst.

He, Nachbar! Bist du noch da?

 

Gott!

 

Du redest wohl nicht mit jedem, was? Unterhältst dich nicht gern mit gewöhnlichen Verbrechern! Was soll ich meine Gedanken für mich behalten? Leise und laute Gedanken, dreiste und teuflische Gedanken, die sich nicht darum scheren, dass es die letzten sind, die durch meinen Kopf wandern.

 

Merkwürdig, dass der Schmerz nicht einfach den Kopf abschaltet!

 

Führst du immer noch Selbstgespräche? - Der andere Gehenkte da, unser Freund in der Mitte, ist auch so ein Schweigsamer. Der meint wohl ebenfalls, dass er was Besseres ist als unsereins.  Dabei wird er genauso öffentlich ausgestellt und angestarrt wie wir.

Wenn ein anderer gefoltert wird, denken die Gaffer, bleiben sie selbst verschont. Idioten. Freut euch bloß nicht zu früh! Ja, glotzt ihr bloß! Merkt euch ruhig, wie das ist, wenn einem tropfenweise die Würde aus dem Leib rinnt. Miese Gaffer!

 

Als der Schmerzensschleier vor meinen Augen aufreißt, wachsen den fleischfarbenen Klumpen unter mir wieder Nasen aus dem Gesicht, Nasen und Lippenwülste und sogar Pickelchen. Die meisten von denen da unten sind Frauen und müssen zu einem der anderen Gekreuzigten gehören. Um mich jedenfalls weint kein Mensch mehr.

 

 

Vielleicht sollten wir uns ein Beispiel an dem großen Helden zwischen uns nehmen. Der bewahrt immer noch Haltung. Er hat nicht mal gewinselt wie unsereins, als es mit seinem Kreuz in die Höhe ging. Hat nur ganz leise gestöhnt, so leise, dass einem neben ihm direkt unheimlich wurde.

 

„Vergib ihnen!“ hat der gestöhnt. „Vater, vergib ihnen.“

 

„Vergib ihnen!“ Da stemmen die Henkersknechte seinen Balken in die Senkrechte, um ihm endlich einen besseren Überblick über seine verfluchte Lage zu verschaffen, und dem Kerl fällt nichts Besseres ein, als ein gutes Wort für seine Peiniger einzulegen. Das verstehe, wer will! Ich nicht. Als ob die nicht haargenau wüssten, was sie anrichten, wenn sie diesen Marterpfahl aufstellen. Ganz genau wissen Sie das. Wie viele Stunden Zeit die Quälerei sich gönnen wird, wie oft die Kandidaten in Panik aufschreien oder vor Wut heulen werden, bevor sie hinüber sind. Geübte Henker wissen über alle Einzelheiten einer Hinrichtung Bescheid. Haben jahrelange Erfahrung mit Todeskandidaten. Sie rechnen sich aus, ob unser Zustand sie zu Überstunden nötigen wird, oder ob unser schnelles Ende ihnen einen baldigen Feierabend beschert. O doch, Nachbar! Haargenau wissen sie, was sie tun, und sie ziehen es durch, nach allen Regeln der Kunst. Darauf kannst du wetten.

 

Unsereins kreist wie eine Schnecke immer nur im eigenen Gehäuse und kommt nicht aus den Schmerzen heraus.

 

Unsereins genießt auch keine Sterbebegleitung wie der Mann in unserer Mitte. Dem Guten sind Verwandte und Freunde nicht weggelaufen.

 

Leute, die ausharren, statt den Verurteilten allein zum Schafott ziehen zu lassen; Leute, mit denen er reden und später, wenn die ausgetrocknete Zunge sich nicht mehr bewegt, schweigen und den Wachwechsel abwarten kann.

 

Zu meiner Begleitung nach Golgatha hat sich niemand angeboten; keine Mutter, keine Schwester, kein Freund. Die haben mich schon verlassen, bevor der Richter mein Todesurteil besiegelte.

 

Es wäre bloß ein weiterer Spießrutenlauf für sie geworden. Den wollte ich meiner Familie nicht zumuten. Diese elenden Stunden auf Golgatha und in der Hitze, der Gestank und all das: Das müssen sich meine Verwandten nicht auch noch anschauen, dachte ich. Ich wollte rücksichtsvoll sein, wenigstens dieses eine Mal.

 

Wie fürsorglich! Du hättest den Deinen ruhig noch ein paar letzte Worte mitgeben können, ganz wie unser Genosse hier.

 

„Frau, sieh, das soll von jetzt ab dein Sohn sein; Freund, diese Frau sollst du behandeln wie deine eigene Mutter!“ Ich fass es nicht. Kriegt kaum noch die Kiefer auseinander und betätigt sich immer noch als Beziehungsstifter. Mir kämen die Tränen, wenn ich noch welche hätte!

 

„Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes.“

(Lk 23,35)

 

Der Christus? Ach, das ist ja praktisch, Nachbar! Ich wusste gar nicht, dass wir neben einem Erwählten zur Hölle fahren dürfen. Ich fühle mich geehrt!

 

Kannst du endlich mal dein zynisches Maul halten?

 

Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig

und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber!“

(Lk 23,36 f)

 

„Steig herab vom Kreuz!“, rufen die. „Ja wie denn, bitte? Wie kann ein Gehenkter seine Arme vom Kreuzbalken ziehen, wenn niemand ihm die Füße stützt?“

 

„Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König.

Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!“

(Lk 23,38f)

 

Schöner König, mit einer Krone aus Gestrüpp auf dem Schädel. Der Witz des Jahres. Der dornengekrönte Herr Messias wird sich doch hoffentlich solidarisch zeigen und ein, zwei Abgeordnete aus seiner Engelstruppe entbehren, damit sie auch uns beim Abstieg vom Kreuz behilflich sind. Oder kümmert sich dieser Erwählte etwa nicht um ordinäre Sterbende wie dich und mich? Wir sind zwar nicht wegen so vornehmer Vergehen verurteilt worden. „Gotteslästerung“: Das ist mehr was für Philosophen. Gemeine Kriminelle werden wegen ganz anderer Sachen schuldig gesprochen.

 

Schuldig, unschuldig... Am Römer-Kreuz kein großer Unterschied, finde ich.

 

Was mich betrifft, kann ich mir beim besten Willen kein einziges Verbrechen vorstellen, für das ein Mensch es verdient hätte, hier in die Sonne gehängt und ausgedörrt zu werden.

 

Spiel bloß nicht den Unschuldigen. Wenn einer diese Strafe garantiert nicht verdient hat, dann der Mann neben uns.

 

Das ist es ja gerade. Er hat nichts und niemandem etwas zuleide getan und hängt neben zwei Schurken am Galgen. Der Witz der Woche! Ob du als Bettler oder als König auf die Welt kommst, ist völlig egal. Ob du dein Leben als Gauner verbringst oder als Lichtgestalt und Hoffnungsträger durch die Finsternisse der Welt stolzierst: Zum Schluss hängen die Großen und die Kleinen nebeneinander am Galgen.

 

Jämmerlich ist das, dein Gerede. Willst doch nur die Todesangst wegplappern.

 

Jämmerlich, ganz recht. Mein ganzes Leben war jämmerlich. Auf diese Weise bleibe ich mir jedenfalls treu.

 

Zur Umkehr...

 

... ist es nie zu spät blabla? Ich kenne die Sprüche, mit denen du mir ins Gewissen reden willst. Solche Weisheiten haben mir nie geschmeckt, Kamerad. In den allerletzten Stunden lässt sich ein chaotisches Leben nicht mehr in Ordnung bringen. Aufräumarbeiten bringen nichts mehr. Eine Ruine, unvollendet und reif zum Abbruch. Das ist alles, was bleibt. Umkehrversuche kurz vor Schluss: lächerlich.

 

Eine Sache des Stolzes.

 

Einfach die Waffen zu strecken, wäre feige. Ich bin kein Feigling. Ich habe viele Fehler gemacht, aber ein Feigling, nein, der war ich nie.

 

Sag ich doch. Eine Sache des Stolzes. Du glaubst, dass du dir nur so deine Würde bewahrst, nur, indem Du Nein sagst. Dabei weiß jedes Kind, dass die Qualen einer Hinrichtung umso schlimmer sind, je heftiger der Kandidat sich wehrt. Ich jedenfalls will nicht mehr kämpfen. Es reicht, finde ich.

 

Jetzt kapiere ich langsam, worauf du hinaus willst. Loslassen soll ich, mich endlich in andere Hände fallen lassen, mein Schicksal annehmen und all so’n Quatsch. So redet einer im Stadium der Ergebung; einer fortgeschrittenen Phase, von der behauptet wird, von hier aus sei das Sterben nur noch ein Klacks. Ich habe diese Phase, die im Munde aller Überlebenden durchgekaut wird, noch nicht erreicht und will sie auch gar nicht erreichen. Zeig mir, wie ich diesen Balken loslassen soll, an den sie mich geheftet haben. Mach es mir vor! Das Kreuz hängt mir an, wie ich an dem Kreuz hänge.

 

Warte ab. Der Mann aus Nazareth sieht aus, als werde er vor uns sterben. Er zeigt uns, wie es geht.

 

„Heute wirst du mit mir im Paradies sein,“ hat er dir versprochen. O doch, das habe ich mitgekriegt. Denk nicht, dass ich die Versprechen eines eingebildeten Christus einfach überhört hätte! Nur glaube ich weder an Verheißungen, noch Drohungen, was das unbekannte Land hinter der Todesgrenze betrifft.

 

Warte ab.

 

Tut mir leid, Genosse, aber deinen untersten Weg wandere ich nicht mit. Ich wünsche mir kein friedliches Sterben. Wenn überhaupt, dann ist mir an einem furiosen Finale gelegen.

 

Seltsam, wie unwirklich der Tod bleibt, noch in der letzten, lebendigen Stunde.

 

Das richtige Krepieren geht immer nur andere an, denken wir.

 

Ich beobachte, wie der Mann neben mir Stück um Stück seinen Geist aufgibt, aber den Moment, wenn die Kälte nach meiner eigenen Seele schnappt, kann ich mir immer noch nicht vorstellen.

 

Dabei hängen wir jetzt schon... wie viele Stunden?- ganz real in der Wirklichkeit.

 

Man verliert das Zeitgefühl, und mit ihm den Kontakt zur Realität. Plötzlich zieht einen gar nichts mehr nach unten.

 

Sterben ist immer anders, als die Lebendigen es sich ausmalen.

Sogar unser Nachbar schaukelt gerade in einem Stimmungs-Hoch. Ich wette, er hat gedacht, endlich sei seine allerletzte Sekunde angebrochen. Endlich wär’ alles geschafft und vollendet. Ich habe ihn beobachtet: Wie er den gebeugten Querkopf noch einmal in Richtung Himmel hob, war sehenswert. Voller Begeisterung wollte er sich in die Hände seines Vaters fallen lassen. „In deine Hände, Vater, befehle ich meinen Geist!“ hat er... gebetet? Er hat gebetet, dass es vorbei sein möge. Doch atmet er immer noch, wie ich sehe. Das Abtreten ist nicht so einfach, wie man es sich denkt, und das Sterben ist für keinen Menschen ein Wunschkonzert.

 

Angstangstangst, hieß es. Eine Hinrichtung besteht aus nichts als Angst. Ich wusste nicht, dass die Todesangst umschlagen kann in Euphorie, in eine Art Vorfreude, in einen Rausch, der den Schmerzen die Spitzen ausschlägt. „Meinen Geist befehle ich...“ Ich befehle nicht mehr, begeistert bin ich erst recht nicht, aber ich lasse alles, was mich ausmacht, in andere Hände gleiten. Dass diese Hände mich nicht fallenlassen, das wäre ein Trost.

 

Träum weiter, Mensch! Unser Genosse atmet immer noch, wie du siehst. Anscheinend sind Gottes Arme gerade besetzt.

 

Sie wollen mich auffangen und forttragen. Fort. Mich. Wollen sie auffangen. Mich.

 

... und ohne Umwege ins Paradies befördern, ich weiß. Wenn du dort ankommst, Bruder, denkst du dann an einen armen Kerl wie mich, der sich nach wie vor jenseits von Eden abstrampeln muss? Oder denkst du dann überhaupt nichts mehr?

 

Das Licht! Am Ende des Tunnels Da drüben wartet das Licht.

 

Ich sehe nur, dass der Horizont sich allmählich verdunkelt. Und kalt wird es. Kalt.

 

Es wird heller. Der Horizont glüht.

 

Wahnvorstellungen. Wem’s hilft…!

 

Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet.“

(Joh 19,28)

 

Hör dir den an. Der fantasiert schon vor lauter Durst. Die Sehnsucht eines Verdurstenden, dem man das Paradies versprochen hat. Für ihn besteht der Garten Eden aus Feuchtigkeit; aus saftigem Boden, aus Tautropfen auf den Lippen.

 

„Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund.“

(Joh 19,29)

 

He, was soll das? Ich denke, das ist der Christus. Der braucht keine Narkose. Der hat doch einen Gott, der ihn sanft über die Schwelle trägt!

 

Mich dürstet.

 

Man wird irre vor Durst. Irre.

 

„Und zu der neunten Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Und einige, die dabeistanden, als sie das hörten, sprachen sie: Siehe, er ruft den Elia.“

(Mk 15,34 f)

 

Hör dir das an: Verliert unser Sanftmütiger am Ende doch noch seine Fassung und brüllt nach seinem Gott. „Mein Gott, warum.“ Der erste glaubwürdige Satz unseres Leidensgenossen aus Galiläa... Den kann ich mitsprechen. Die Frage nach dem Warum passt immer.

Aber der Himmel antwortet nicht. Hat er noch nie getan.

 

„Warum hast du mich verlassen?“ Wenn sogar Christus das sagt, dann hört Gott auch uns, wenn wir nach ihm schreien.

 

He, Nachbar, bist du noch da? Wenn es stimmt, dass unsere Ohren als letztes sterben, dürfte er es beinahe geschafft haben.

 

„Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied.“

(Joh 19,30)

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Arvo Pärt, Fratres; Daniel Hope, Spheres
  2. Arvo Pärt, Fratres; Caussin Duo, Music for Cello and Piano
  3. Gabriel Fauré, Elegy in C minor Op. 24; (The very best of) Jacqueline du Pré
09.04.2020
Susanne Krahe