Dieser Moment am Sonntagmittag in der Frankfurter Paulskirche hat mich berührt: der Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Navid Kermani deutscher Schriftsteller iranischer Abstammung, Muslim – fordert am Ende seiner Dankesrede die Anwesenden auf, zu beten statt zu klatschen. Um in der Stille bei den gequälten Menschen in Syrien und im Irak zu sein. Diejenigen, die nicht religiös sind, bittet Kermani, sich etwas für diese Menschen zu wünschen.
Dass ein Preisträger zum Gebet einlädt, hat mich wie viele andere überrascht. Jeder Betende wendet sich an Gott, dem er vertraut. In aller Verschiedenheit dabei nebeneinander zu stehen, kann ein Zeichen fürs einander Beistehen werden, ja, für Frieden zwischen den Religionen.
Kermani will den brutalen Schreckensbildern des ‚Islamischen Staates‘ ein anderes Bild entgegensetzen, "ein Bild unserer Brüderlichkeit", wie er sagt. Er lädt dazu ein, sich zu erheben und für den christlichen Orden von Mar Musa in Syrien und die katholische Gemeinde von Qaryatayn zu beten, die in der Gewalt der Terroristen sind.
Kermani betet mit nach oben offenen Händen. Wer betet, öffnet sich. Gott um Frieden zu bitten und selber für den Frieden einzutreten, darum geht es. Und das kostet etwas. "Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder genannt werden", sagt Jesus in der Bergpredigt.
Worte und Bilder haben Kraft: wenn Menschen beieinanderstehen, bitten und wünschen, geschieht etwas. Beten verändert die, die es tun. Und die Welt wird nicht mehr ganz dieselbe bleiben.
Während die Menschen in der Paulskirche beten oder etwas wünschen, zeigt die Fernsehkamera das verglaste und damit zum Himmel offene Kirchendach. Das ist rücksichtsvoll: niemand soll sich beobachtet fühlen. Außerdem ist es eine gute Perspektive: Hebt man den Blick, sieht man keine Grenzen.
Als Navid Kermani sein Gebet beendet, geht der Blick der Kamera zu den ersten Reihen. Freundlich zugewandte Gesichter sind zu sehen, hier und da auch offenkundig irritierte. Dann setzt doch noch Applaus ein. Die Kamera zeigt, dass nicht wenige erst in diesem Moment aufstehen. Es bleibt offen, wer mitgebetet und mitgewünscht hat. Und das ist gut so. Der eine hat sich gerne mit hineinnehmen lassen. Der andere wollte sich nicht vereinnahmen lassen, nicht an diesem Ort, nicht zu diesem Anlass, wollte nicht Teil einer öffentlichen Kundgebung werden.
Wer in einen Gottesdienst oder in ein Freitagsgebet geht, weiß, was da kommt – und ist vorbereitet. In der Paulskirche ist es anders. Alle sind hergekommen, um den Friedenspreisträger 2015 zu erleben und ihn zu ehren. Und dieser mutet ihnen etwas zu, worauf sich keiner der Anwesenden vorbereiten konnte. Also eine übergriffige Zumutung? Eine Vereinnahmung?
Niemand muss sich erheben. Und für den Frieden einstehen und etwas dafür tun, kann jeder – auch, wenn er hier jetzt nicht aufsteht. Niemand muss etwas beweisen. Andererseits: eine Zumutung könnte auch meinen Mut herausfordern. Mache ich mit, auch wenn nicht alle dasselbe denken und glauben? Auch wenn ich nicht vollkommen übereinstimme mit dem, was Kermani gesagt hat?
Der Hang zum Authentisch-Sein kann manchmal meinen Blick verengen. Ich könnte ihn auch öffnen, weit machen. Dann sehe ich Menschen in großer Not, die sehnsüchtig warten auf öffentliche Zeichen des Protestes gegen Hass und Gewalt.
Bilder haben Wirkung. Und Kermani hat ein Gespür dafür, was so ein "Bild der Brüderlichkeit" bedeuten kann, in dem Unterschiede kleiner und Verbindungen stärker werden. Mich ermutigt das Bild der Frauen und Männer, die den Friedenspreisträger durch ihr Aufstehen unterstützt haben, mit Gebeten, mit Wünschen, mit Klatschen.
Und ich wünsche mir mehr solche Bilder der Geschwisterlichkeit, von Menschen, die in aller Verschiedenheit nah beieinander stehen. Wenn Sie mit mir darüber reden möchten: bis 8.00 Uhr bin ich erreichbar unter der Telefonnummer 030 – 325 321 344. Ich wiederhole: 030 – 325 321 344. Oder diskutieren Sie mit auf Facebook unter ‚deutschlandradio.evangelisch‘.