Hebt man den Blick, sieht man keine Grenzen

Hebt man den Blick, sieht man keine Grenzen
23.10.2015 - 06:35
18.06.2015
Pfarrer Eberhard Hadem

Dieser Moment am Sonntagmittag in der Frankfurter Paulskirche hat mich berührt: der Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Navid Kermani deutscher Schriftsteller iranischer Abstammung, Muslim – fordert am Ende  seiner Dankesrede  die  Anwesenden auf,  zu  beten statt  zu  klatschen.  Um  in  der Stille  bei  den  gequälten  Menschen  in  Syrien  und  im  Irak  zu  sein.  Diejenigen,  die  nicht  religiös  sind,  bittet Kermani, sich etwas für diese Menschen zu wünschen.

Dass ein Preisträger zum Gebet einlädt, hat mich wie viele andere überrascht. Jeder Betende wendet sich an Gott,  dem  er  vertraut. In  aller  Verschiedenheit  dabei  nebeneinander  zu  stehen,  kann  ein  Zeichen fürs  einander Beistehen werden, ja, für Frieden zwischen den Religionen.

Kermani will den brutalen Schreckensbildern des ‚Islamischen Staates‘ ein anderes Bild entgegensetzen, „ein Bild unserer Brüderlichkeit“, wie er sagt. Er lädt dazu ein, sich zu erheben und für den christlichen Orden von Mar Musa in Syrien und die katholische Gemeinde von Qaryatayn zu beten, die in der Gewalt der Terroristen sind.

Kermani betet mit nach oben offenen Händen. Wer betet, öffnet sich. Gott um Frieden zu bitten und selber für den Frieden einzutreten, darum geht es. Und das kostet etwas. „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder genannt werden“, sagt Jesus in der Bergpredigt.

Worte und Bilder haben Kraft: wenn Menschen beieinanderstehen, bitten und wünschen, geschieht etwas. Beten verändert die, die es tun. Und die Welt wird nicht mehr ganz dieselbe bleiben.

Während  die  Menschen  in  der  Paulskirche  beten  oder  etwas  wünschen,  zeigt  die  Fernsehkamera  das  verglaste und damit zum Himmel offene Kirchendach. Das ist rücksichtsvoll: niemand soll sich beobachtet fühlen. Außerdem ist es eine gute Perspektive: Hebt man den Blick, sieht man keine Grenzen.

Als  Navid  Kermani  sein  Gebet  beendet,  geht  der  Blick  der  Kamera  zu  den  ersten  Reihen.  Freundlich  zugewandte Gesichter sind zu sehen, hier und da auch offenkundig irritierte. Dann setzt doch noch Applaus ein. Die Kamera zeigt, dass nicht wenige erst in diesem Moment aufstehen. Es bleibt offen, wer mitgebetet und mitgewünscht hat. Und das ist gut so. Der eine hat sich gerne mit hineinnehmen lassen. Der andere wollte sich nicht vereinnahmen lassen, nicht an diesem Ort, nicht zu diesem Anlass, wollte nicht Teil einer öffentlichen Kundgebung werden.


Wer in einen Gottesdienst oder in ein Freitagsgebet geht, weiß, was da kommt – und ist vorbereitet. In der Paulskirche  ist  es  anders. Alle sind hergekommen, um den Friedenspreisträger 2015 zu erleben und ihn zu ehren. Und dieser mutet ihnen etwas zu, worauf sich keiner der Anwesenden vorbereiten konnte. Also eine übergriffige Zumutung? Eine Vereinnahmung?

Niemand muss sich erheben. Und für den Frieden einstehen und etwas dafür tun, kann jeder – auch, wenn er hier jetzt nicht aufsteht. Niemand muss etwas beweisen. Andererseits: eine Zumutung könnte auch meinen Mut herausfordern. Mache ich mit, auch wenn nicht alle dasselbe  denken  und  glauben?  Auch  wenn  ich  nicht  vollkommen  übereinstimme  mit  dem,  was  Kermani gesagt hat?

Der  Hang  zum  Authentisch-Sein  kann  manchmal  meinen  Blick  verengen. Ich  könnte ihn  auch  öffnen,  weit machen. Dann sehe ich Menschen in großer Not, die sehnsüchtig warten auf öffentliche Zeichen des Protestes gegen Hass und Gewalt.

Bilder haben Wirkung. Und Kermani hat ein Gespür dafür, was so ein „Bild der Brüderlichkeit“ bedeuten kann,  in  dem  Unterschiede  kleiner  und  Verbindungen  stärker  werden.  Mich  ermutigt  das  Bild  der  Frauen und  Männer,  die  den  Friedenspreisträger  durch  ihr  Aufstehen  unterstützt  haben,  mit  Gebeten,  mit  Wünschen, mit Klatschen.

Und  ich  wünsche  mir  mehr  solche  Bilder  der  Geschwisterlichkeit,  von  Menschen,  die  in  aller  Verschiedenheit nah beieinander stehen. Wenn Sie mit mir darüber reden möchten: bis 8.00 Uhr bin ich erreichbar unter der Telefonnummer 030 – 325 321 344. Ich wiederhole: 030 – 325 321 344. Oder diskutieren Sie mit auf Facebook unter ‚deutschlandradio.evangelisch‘.

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18.06.2015
Pfarrer Eberhard Hadem