Entdecke Deinen Blues

Morgenandacht
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Zur langen Nacht des Blues im Deutschlandfunk
03.11.2018 - 06:35
13.09.2018
Heidrun Dörken
Sendung zum Nachhören
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Gegen den Blues hilft am besten der Blues. Klingt paradox, aber es ist etwas Wahres dran. Wer traurig ist, wer den Blues hat, für den kann das ein erster Schritt sein: Ein Lied hören, das der eigenen Stimmung eine Stimme gibt. Denn in den Tönen von anderen kann ich meinen eigenen Ton finden.

 

Ich selbst habe wenig Ahnung von Musik und habe mir das lange nicht gegönnt: Lieder zu suchen, die zu mir passen. Und mir auch Zeit zu verschaffen, sie zu hören. Andere haben mir gezeigt, wie gut das tut. Mein Vater hatte seinen Johann Sebastian noch mit dem Tonbandgerät abgespielt, ich erinnere mich an die Zeile „Ach Gott, wie manches Herzeleid begegnet mir zu dieser Zeit! (1) Eine Kindheitserinnerung, auf dem Teppich in seinem Zimmer zu liegen und die Tonband-Spulen drehen sich. Als Erwachsene kann ich mir selbst so eine Musik-Oase schaffen. Oder ich mache es einem Kollegen nach, der sagt: Die geistliche Musik im Radio am Sonntagmorgen ist mir heilig, gerade in der dunklen Jahreszeit. Eine Freundin wiederum hat im CD-Regal eine Trost-Ecke, so nennt sie das. Sie hat auch auf ihrem Handy eine Playlist gespeichert für unterwegs. Lieder, von denen sie weiß: Die drücken aus, was sie gerade nicht rausbringt.

 

Anregung für eigene Lieder-Listen gibt es heute Abend im Deutschlandfunk. Da läuft die „Lange Nacht des Blues“. Dieser Musikstil aus den USA vom Beginn des 20. Jahrhunderts, der viele andere Musikrichtungen beeinflusst hat. Die Frauen und Männer, die den Blues geschaffen haben, nannten ihn nach tiefer blauer Farbe. Der Blues drückt zwar nicht nur Trauriges aus, er kennt auch Witz und Humor. Doch er singt vor allem von schweren Erfahrungen, die die Sängerinnen und Musiker gemacht haben: Elend, Zorn, Trauer. Sie waren Nachfahren von denen, die brutal aus ihrer Heimat Afrika entführt und als Sklaven verkauft wurden. Auch nach Ende der Sklaverei waren sie noch lange nicht zu ihren Menschenrechten und Bürgerrechten gekommen. Es ist bis heute nötig, dafür einzutreten. Viele von ihnen waren Christen geworden. In den biblischen Geschichten des jüdischen Volks haben sie sich wieder gefunden und davon gesungen: Unterdrückung und Sklaverei in Ägypten, Hoffnung auf Freiheit, der Auszug aus der Knechtschaft und lange Wüstenzeiten. Und die Hoffnung auf das gelobte Land.

 

Der Blues ist eine musikalische Form der Klage. Wie viele Psalmen, die Lieder der Bibel. Blues und Psalmen haben viel gemeinsam. Sie sprechen schlicht aus, was im Moment ist. In den biblischen Klage-Psalmen klingt das so: „Ich bin wie ein zerbrochenes Gefäß. Wie soll ich mich trösten?“ (2) Im Blues hört sich das so an: Der Geliebte hat mich verlassen. Ich kann nicht mehr. Und die Hoffnung, dass ich gehört werde, klingt so: Niemand kennt meinen Kummer – außer Gott. Die Klagen werden musikalisch wiederholt oder variiert. Wenn all das Elend ausführlich zu Wort gekommen ist und gesungen ist, wird es seltsamerweise nicht schlimmer, sondern besser. Denn gegen den Blues hilft am besten der Blues. Weil das Traurige da sein kann. Ausgesprochen ist. Nicht mehr stumm ist. Das ist besser als die Alternative, zu der man oft im Alltag flüchtet: Ärger und Kummer wegzuschieben. Oder mit Aktivitäten oder Alkohol zu betäuben. Das heilt nicht, sondern lähmt.

 

Der Blues singt, was ist. Er gibt der Klage eine Form, ein Lied. Wer so singt, steht da und steht zum Schmerz. Und ich kann zuhören. Weil es Menschen gibt, die mit Wort und Musik zu ihren Gefühlen stehen, komme ich auch zu meiner Wahrheit. Der Blues ist dann noch nicht die Lösung. Aber er ist ein Weg aus dem stummen Schmerz. Ich will ihn in meiner musikalischen Hausapotheke haben. Ich werde heute Abend zuhören bei der langen Nacht des Blues. (3)

 

(1) BW 3

(2) Psalm 21, 13; Psalm 39, 7

(3) DLF Lange Nacht 3.11.2018 ab 23.05 Uhr: Auf der Suche nach Freiheit. Eine Lange Nacht über den Weg des Blues vom Mississippi-Delta nach Chicago. Von Michael Groth. Regie: Rita Höhne

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

13.09.2018
Heidrun Dörken