Halbtagssorgen

Morgenandacht

Gemeinfrei via unsplash/ Billy Huynh

Halbtagssorgen
Die Sorgen in den Himmel werfen!
19.03.2022 - 06:35
28.01.2022
Ulrike Greim
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Die Sendung zum Nachlesen: 

„Ich denke an euch bis zum Mittag.“ Das hatte ihm die Mutter immer hinterhergerufen, wenn er mit seinem Bruder morgens zur Schule losgezogen ist. Das war irgendwie ihr Satz. Er kam immer wieder. „Ich denke an euch bis zum Mittag.“

Später hatte er sich gefragt, ob sie da ein Komma gesetzt, aber nicht mitgesprochen hat, im Sinne von „Ich denke an Euch. Wir sehen uns dann zum Mittag.“

Noch später dachte er: Nein, sie hat das genau so gemeint. Sie denkt an uns nur bis zum Mittag, solange wir in der Schule sind. Danach muss sie sich nicht mehr sorgen und kann sich um Anderes kümmern. Man kann sich ja auch nicht den ganzen Tag sorgen. Bis zum Mittag reicht. So lange gilt das Denken, das Daumendrücken, das Sorgen machen. Aber weiter nicht.

„Ich denke an euch bis zum Mittag.“

Er weiß auch nicht genau, warum ihm dieser Satz seiner Mutter jetzt wieder einfällt. Vielleicht, weil er selbst ein Kümmerer geworden ist, einer, der sich viel sorgt. Um viele. Um seine Familie, um alle aus dem Freundeskreis, um sein Dorf. Und intensiv um Geflüchtete. Seit vielen Jahren. Mit heftigen Schicksalen. Und immer wieder um die weltpolitische Lage, genauer: um das, was er jetzt aktuell vor Ort tun kann und in Gottes Namen tun muss.

Das frisst ihn manchmal auf. Sein Tag hat auch nur 24 Stunden. Und die Sorgen sind gerade riesig. Bei den Nachrichten! Sie drücken ihn ohnmächtig aufs Sofa. Er schläft nachts schlecht.

Eines hat er schon geschafft: Damit er nicht zum Nachrichten-Junkie wird, hat er sich zusammen mit seiner Frau verständigt, sie wollen morgens und abends die Meldungen mitkriegen, aber dazwischen nicht. Andauernd schlechte Nachrichten verkraftet kein Mensch. Also: dosieren.

Aber die Sorgenmaschinerie in seinem Kopf läuft trotzdem weiter.

Ob er genug tut? Denn man muss doch verdammt nochmal was tun, sagt sein Gewissen. Er versucht, es kleinzuhalten. Er hat ja auch noch einen Job und diverse Ehrenämter. Und Familie.

Das Gewissen unterdrücken – es tut ihm nicht gut. Er merkt, wie es sich innerlich ballt. Aber sich sorgen und kümmern ohne Ende bringt selbst einen Kümmerer wie ihn an den Rand der Kräfte – man müsste ein Übermensch sein.

‚Das Gute, was du tun kannst, tu.‘ So hatte er es gelernt. Aber gerade wäre so unendlich viel zu tun. Im Kleinen und in der großen Politik.

Und wie es so in ihm arbeitet, kommt ihm diese Szene wieder hoch. Er geht wieder aus der Tür, zusammen mit seinem Bruder, dreht sich noch einmal kurz um, sieht die Mutter dastehen, sie winkt und ruft: „Ich denke an euch bis zum Mittag.“

Eigentlich ein guter Selbstschutz, sagt er sich. Sich sorgen, an alles denken, aber es begrenzen. Die Sorgen begrenzen. Bis Mittag. Dann ist gut. Der morgige Tag wird seine eigene Sorge haben.

Im Prinzip weiß er es ja: Du kannst nur tun, was du tun kannst. Mehr eben nicht. Du kannst nur die Energie hergeben, die du hast. Und nur einen fröhlichen Geber hat Gott lieb. Nicht den mit den zusammengebissenen Zähnen, der selber am Ende ist, und immer noch meint, helfen zu müssen.

Also: Sorgen begrenzen. Und den Rest in den Himmel werfen.

Das hat er aus der Kirche noch im Ohr. Und das will er einmal so für sich glauben. Wenigstens als Arbeitsthese: dass er seine Sorgen in den Himmel werfen kann, weil da noch einer ist, der sich sorgt.

Damit kann er ins Wochenende gehen. Mit dem Vorsatz, dass es jetzt mal einen Monat lang nur noch Halbtagssorgen gibt. Und jetzt, am Wochenende, fastet er mit der Grübelei, setzt sich stattdessen in den Garten und guckt dem Frühling zu. Der Himmel arbeitet ja weiter. Auch in seinem Herzen.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

28.01.2022
Ulrike Greim