Krankheit als Reise

Morgenandacht
Krankheit als Reise
27.11.2018 - 06:35
13.09.2018
Ines Bauschke
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Wer völlig gesund ist, ist auch ein bisschen beschränkt. Das meint jedenfalls der Schriftsteller André Gide. Er sagt es nicht ganz so direkt, sondern er drückt es so aus: „Ich habe unter denen, die sich einer unerschütterlichen Gesundheit erfreuen, noch keinen getroffen, der nicht nach irgendeiner Seite hin ein bisschen beschränkt gewesen wäre – wie solche, die nie gereist sind.“ (1)

 

Für André Gide ist eine Krankheit mit einer Reise vergleichbar. Wer aber immer gesund geblieben ist, kennt diese Art von Reise nicht – und bleibt, wie der Dichter es ausdrückt, ein bisschen beschränkt. Ein kritischer Blick auf die ganz und gar Gesunden: Es fehlt ihnen nichts, aber gerade damit fehlt ihnen ein wichtiges Stück Lebenserfahrung.

 

Es ist schon ein Geschenk, wenn ein Mensch in seinem Leben gesund bleibt. Möglich, dass er dieses Geschenk erst im Nachhinein begreift, – wenn er irgendwann doch die Erfahrung machen muss, krank zu werden. Ein Mann, den ich besucht habe, sagte zu mir: „Wissen Sie, ich habe jetzt eine schwere Krankheit, aber vierzig Jahre lang bin ich nicht ein einziges Mal krank gewesen. Dafür bin ich dankbar.“ Mich hat es beeindruckt, wie dieser Mann seine Dankbarkeit auch als schwer Erkrankter äußern konnte.

 

Wofür er allerdings nicht dankbar war, das waren die äußeren Umstände seiner Krankheit. Denn das kann ein besonders unangenehmer Teil der Reise eines Kranken sein: Die lange und mühsame Suche nach der richtigen Diagnose, die Odyssee durch Arztpraxen und Ambulanzen. Besonders bitter für ihn war die Erfahrung, trotz starker Schmerzen im Krankenhaus abgewiesen zu werden, dann das lange Warten auf einen Facharzttermin und die quälenden Monate bis zu einer passenden Schmerztherapie.


Der Mann war gesetzlich versichert, nicht privat. Zu allem Überfluss las er später im Anzeigenblatt seiner Region die Werbeanzeige einer chirurgischen Praxis. Diese warb dafür, dass auch gesetzlich Versicherte innerhalb von drei Tagen einen Termin bekommen könnten, – wenn sie denn bereit wären, ihre Arztkosten privat zu tragen. „Meinen Glauben an Gott habe ich in dieser leidvollen Zeit nicht verloren,“ vertraute mir der kranke Mann an, „den Glauben an das Gesundheitssystem schon.“

 

Ich glaube, dass der Dichter André Gide diesen Aspekt noch nicht im Blick hatte, als er Krankheit mit einer Reise verglich und die Gesunden als ein bisschen beschränkt erlebte. Aber wenn er diese kritisierte, dann deshalb, weil er an ihnen das Einfühlungsvermögen vermisst hat. Denn das schreibt André Gide auch: „Die noch nie krank waren, sind des Mitgefühls für eine ganze Anzahl Elendszustände nicht fähig.“ (2)

 

Mitgefühl ist eine menschliche Qualität, die allen zu wünschen ist, die mit kranken Menschen zu tun haben. Denn wenn sich ein Kranker einem medizinischen Komplex ausgeliefert fühlt und dieses Mitgefühl nicht erfährt, wenn sich keiner seiner Schmerzen annimmt, erlebt er sich als alleingelassen und ohnmächtig. Die Klage des kranken Mannes über diese Erfahrung ist mir nachgegangen.

 

Ich glaube nicht, dass der Sinn des Lebens darin besteht, auf keinen Fall krank zu werden. Der Dichter André Gide hält Krankheiten für Schlüssel, er schreibt: „Ich glaube, es gibt gewisse Tore, die einzig die Krankheit öffnen kann.“ (3)

Wer durch Krankheit etwas über sich selbst gelernt hat, über seine Verletzlichkeit, aber auch über seine Selbstheilungskräfte, kann selber für Kranke heilsam wirken. Als verwundeter Heiler, dem archetypischen Bild, auf das der Psychologe Carl Gustav Jung aufmerksam gemacht hat: Heilkraft findet sich gerade in denjenigen, die selbst verletzt worden sind. (4) Wer selbst eine Leidenserfahrung gemacht hat, kann ein Gefühl entwickeln für die Leiden eines kranken Menschen.

 

Ein verwundeter Heiler trägt sowohl die eigene Schwäche der Krankheit als auch die eigenen Kräfte der Heilung in sich. Er oder sie kann wie eine Brücke sein zwischen Kranken und Gesunden – kann mitgehen, begleiten. Das ist ungeheuer wichtig für einen Menschen in Not.

 

Auch auf Jesus lässt sich dieses Bild vom verwundeten Heiler anwenden. Jesus als der Schmerzensmann, der anderen hilft und sie befreit, wie es in der Liedstrophe heißt: „Ein Arzt ist uns gegeben, der selber ist das Leben. Christus, für uns gestorben, hat uns das Heil erworben.“ (EG 320,4)

 

(1) – (3)  Andrè Gide, Aus den Tagebüchern 1889-1939, Stuttgart 1961, Eintrag vom 25. Juli 1930, S. 321f

(4)  C.G.Jung: Erinnerungen, Träume und Gedanken, Zürich 1962, 139

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.09.2018
Ines Bauschke