Stiller Tag

Morgenandacht
Stiller Tag
28.12.2017 - 06:35
06.12.2017
Pfarrerin Marita Rödszus-Hecker
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Es ist ja so: Wenn einem langweilig im Gottesdienst wird, dann hat man zum Glück noch das Gesangbuch. Da steht ja mittlerweile mehr drin als nur Kirchenlieder, Bibelsprüche und Lutherzitate. Ich bin beim Blättern zum Beispiel auf den nachdenkenswerten Satz gestoßen: „Horch auf dieses feine, unaufhörliche Geräusch. Es ist die Stille. Horch auf das, was man hört, wenn man nichts mehr vernimmt.“ Der Satz ist von Paul Valery, dem französischen Lyriker und Philosophen. Passt ja eigentlich ganz gut ins Gesangbuch, obwohl Valery es sicher nicht dafür geschrieben hat. Aber nach „Stille Nacht, heilige Nacht“ merkt man ja doch: Gott und die Stille gehören zusammen. Vielleicht noch mehr als Gott und das Wort. Diese Stille ist eine besondere Stille, eine heilige Stille. Eine andächtige Stille, in der es einem selbst angenehm still wird, ruhig wird.

 

„Horch auf das, was man hört, wenn man nichts mehr vernimmt.“ Aber: Wenn man nichts mehr vernimmt, was soll man da noch hören? Kann man Stille hören? Macht Stille ein Geräusch? Wenn die Orgel nicht mehr spielt, die Pfarrerin einen Moment schweigt, der Täufling aufgehört hat zu schreien, die Glocken nicht mehr schlagen – dann ist da noch ein Rascheln, ein Hüsteln, ein im Gesangbuch Blättern. Meint Valery das? Aber das ist noch keine Stille. Oder meint er die Stille draußen, wenn man an einem schönen Tag im Freien sitzt, nichts hört als das ferne Brummen einen Flugzeugs, das sanfte Knattern eines Rasenmähers, das zarte Vogelgezwitscher, oder ein fernes, friedliches Kindernachmittagsgeschrei. Diese Geräusche allerdings vernimmt man noch, bei aller Stille.

 

„Horch auf das, was man hört, wenn man nichts mehr vernimmt.“ Vielleicht meint er auch diese schwer erträgliche Stille, die entsteht, wenn es einem die Sprache verschlägt. Diese Stille tut richtig weh. Die Stille, die eintritt, nachdem man die Lebensgeschichte, die Leidensgeschichte eines Menschen gehört hat. Die Stille der Ratlosigkeit, und des Entsetzens. Die Stille die eintritt, nachdem man schweigend zugehört hat. Das ist allerdings kein „feines Geräusch“, das ist eine Stille, die weht tut. Und die Uhr an der Wand tickt dreimal so laut wie normal.

 

Oder meint er die Stille, die eintritt, wenn jemand, der im Sterben liegt, von der Intensivstation mit ihrem Surren, Piepsen, Brummen endlich in ein ruhiges Zimmer mit gedämpftem Licht verlegt wird. Man sitzt an seinem Bett, hält seine Hand, hört noch ein leises Einatmen und Ausatmen, Einatmen und Ausatmen. Und dann ist es auf einmal auch zuende. Was hört man dann, wenn man nichts mehr hört? Stille? Und warum ist es so anstrengend, diese Stille zu ertragen und nicht wieder schnell etwas zu tun oder zu reden? Einfach nur still sein. Auf sich selbst zurückgeworfen sein.

 

Eine Freundin hat mir vor Weihnachten gesagt: „Ich muss unbedingt weg in dieser Zeit, ich kann das nicht ertragen. Zu viele düstere Gedanken. Heiligabend gibt es ja keine Ablenkung, nirgends, überall nur geschlossene Familiengesellschaften, und draußen diese unerträgliche Sonn- und Feiertagsstille. Für Singles ist das nichts.“ Wer mag schon nach Hause kommen, und da sitzt dann keiner, nur der Kühlschrank brummt, und aus der Nachbarwohnung Kinderlachen oder Ehekrach – und sonst – Stille. Wenn man auf die hört, fühlt man sich doppelt einsam. Also ist meine Freundin vor Weihnachten auf und davon – und hat stattdessen Klosterurlaub gemacht und stille Tage im Kloster genossen. Schon merkwürdig: Stille hört sich an jedem Ort und zu jeder Zeit anders an.

 

„Horch auf dieses feine, unaufhörliche Geräusch. Es ist die Stille. Horch auf das, was man hört, wenn man nichts mehr vernimmt.“ Eine Stille finden, die mir zusagt, in der ich aufatmen kann, weil auch endlich einmal das innere Dauergespräch angenehm verstummt… vielleicht muss ich sie erst einmal aushalten lernen, um mich auf die Suche machen zu können.

06.12.2017
Pfarrerin Marita Rödszus-Hecker