Versöhnung – das größere Konzept von Gerechtigkeit

Morgenandacht
Versöhnung – das größere Konzept von Gerechtigkeit
12.11.2018 - 06:35
13.09.2018
Melitta Müller-Hansen
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Sie ist ein Fall für den Gerichtssaal: Die Gerechtigkeit. Und all das gehört dorthin: Recht sprechen. Die Wahrheit herausfinden über ein Verbrechen. Den Menschen zu Wort kommen lassen, dem Gewalt angetan wurde. Und denjenigen damit konfrontieren, der sie ausübte. Zeugenaussagen, Beweise für den Tathergang, Verhöre, Anhörungen, Plädoyers. Es gilt die Unschuldsvermutung. Dem Täter darf keine Gewalt angetan werden, denn auch seine Würde ist unantastbar.

 

Unser Rechtssystem ist human. Es kennt keine Todesstrafe. Es unterscheidet zwischen der Person und der Tat. Kain darf leben, auch wenn er Abel getötet hat. Das ist anstrengend, zieht sich über Jahre hin. Wie im NSU Prozess, der die Mordtaten des Trios Mundhart, Böhme und Zschäpe aufdecken sollte. Da verschwinden Akten, die das ganze Netzwerk und den Unterstützerkreis aufdecken könnten. Die die Verwicklung vom Verfassungsschutz in die rechte Szene aufdecken könnten. Und kaum einer fragt mehr danach. Da sind 10 Menschen ermordet worden und die einzig überlebende Täterin, Beate Zschäpe, hat kein Wort des Bedauerns übrig für die Hinterbliebenen. Sie ist verurteilt worden. Lebenslänglich. Doch das bringt die Getöteten nicht zurück. Und die bange Frage bleibt: hat man alles getan dafür, dass so etwas nicht wieder passiert in diesem Land? Gerechtigkeit ist Stückwerk. Da bleibt so viel offen, was nicht durch Gesetze und Staatsgewalt zu lösen ist.

 

Gerechtigkeit ist auch ein Fall fürs Kinderzimmer, fürs Wohnzimmer einer Familie. Wie gerecht behandeln Eltern ihre Kinder? Wird eins bevorzugt? Gibt es den Liebling und das schwarze Schaf? Wie gerecht ist die Liebe verteilt, oder auch das Geld, das Erbe?

 

Gerechtigkeit im Klassenzimmer. Die Grundschullehrerin mag nur die Mädchen, Jungs haben bei ihr das Nachsehen.

 

Geschlechtergerechtigkeit. Lohngerechtigkeit.

 

Immer bleiben Menschen auf der Strecke. Immer bleibt da eine Gerechtigkeitslücke. Und manchmal klafft da auch ein Riesenloch.

 

Die Bibel hat dafür zwei Konzepte entwickelt:

Da ist die Zedaka in der hebräischen Bibel, im Alten Testament. Ein Gesamtkonzept für das Leben auf dieser Erde. Ein deutsches Wort gibt es nicht dafür – Zedaka ist etwas zwischen Gerechtigkeit und Wohltätigkeit. Sie umfasst alles: Menschen, Tiere, Umwelt, Gesellschaft, Kultur, Gott. Sie ist „das, worauf alles Leben, wenn es in Ordnung ist, ruht“, so sagt es der Theologe Gerhard von Rad. Es gibt eine fast „somatische Verbundenheit des Einzelnen mit der Gemeinschaft“. (1)

 

Ich bin geschaffen, um mich zu verbinden. „Ich freue mich im Lebendigen und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott, denn er …hat mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet…!“ (Jes 60,10) So sagt es Jesaja, der Prophet. Das ist das Lebensgefühl des Verbundenseins. Es macht glücklich, und diese wohltuende Gerechtigkeit kann man lernen, man kann sie einüben. Man kann sie in Gesetzen festschreiben. Mehr noch – man kann sie leben. „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ – das kann man körperlich fühlen.

 

Das andere biblische Konzept von Gerechtigkeit ist das einer großen Sehnsucht, die sich hier in der Welt nicht erfüllt. Das Bild dafür ist das Jüngste Gericht, außerhalb von Raum und Zeit. Am Ende wird Recht gesprochen. Es ist nicht egal, wie ich lebe, ich habe mich dafür zu verantworten. Vor allem aber ist es nicht egal, was den unschuldig Misshandelten, den Entwürdigten und Ermordeten angetan wurde und wird. Es ist nicht egal, wenn die Würde des Menschen angetastet wird. Die irdische Rechtsprechung wird immer zu kurz greifen. Deshalb gibt es diese andere Instanz, die Recht schafft. Und am Ende alle und alles miteinander in Verbindung bringt. Oder wie die Bibel sagt: miteinander versöhnt.

 

(1) zitiert nach Marion Küstenmacher, Integrales Christentum, Gütersloher Verlagshaus 20I8, S. 33

 

Es gilt das gesprochene Wort.

13.09.2018
Melitta Müller-Hansen