In der Gedächtniskirche

Wort zum Tage
In der Gedächtniskirche
21.12.2016 - 06:23
19.12.2016
Pfarrerin Angelika Obert

„Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse, Vater vergib!“ Oft ist in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit diesen Worten gebetet worden. Denn so beginnt das Versöhnungsgebet der Nagelkreuzgemeinschaft, des christlichen Friedensbündnisses, zu dem die Kirche am Breitscheidplatz gehört. Um Frieden und Versöhnung haben wir gebetet nach den Anschlägen von Paris und Nizza, von Brüssel, Orlando und Istanbul. Manches Mal war ich dabei. Nie habe ich daran gedacht, dass es solches Blutvergießen einmal direkt vor den Stufen der Kirche geben könnte. Auf diesem Platz, über den ich unzählige Male gegangen bin. Jetzt weiß ich, wie das ist, wenn das Entsetzen die Glieder lähmt, wenn es mit der Normalität von einem Augenblick auf den andern vorbei ist. Der erste Anruf geht zum Sohn: „Bist du heil?“ Doch wenn die erlösende Antwort kommt, rücken die andern um so näher, die in dieser Nacht nicht heil geblieben sind. Die Gedanken gehen zu den Eltern, Geschwistern, Freunden, die keine erlösende Nachricht bekommen.

 

Was für ein Dunkel liegt jetzt über den letzten Tagen im Advent! Und da ich nichts anderes denken kann, gehen mir immer wieder die Gebetsworte durch den Kopf: „Den Hass, der Rasse von Rasse, Volk von Volk, Klasse von Klasse trennt, Vater vergib!“

Das Gebet hat seinen Ursprung in einer andern Schreckensnacht, als deutsche Bomben die englische Stadt Coventry in Schutt und Asche legten. An den Chorraum seiner zerstörten Kirche ließ der damalige Dompropst die Worte schreiben. „Vater, vergib!“. Und aus Nägeln des Dachstuhls entstand das Nagelkreuz, das später Gemeinden in aller Welt verbinden sollte. Die Inschrift von Coventry hätte auch lauten können: „Hier haben die Deutschen gewütet!“ Aber eben das schrieb der Dompropst nicht, sondern: „Vater, vergib!“ Christen hören da die Worte mit, die Jesus am Kreuz sprach: „denn sie wissen nicht, was sie tun.“

 

Wissen sie wirklich nicht, was sie tun, die todessüchtigen Gewalttäter? Ich kann das nicht denken, aber so viel ist mir gewiss: Aus jeder der zahllosen Schreckensnächte dieser Welt sollten wir hervorgehen als Menschen, die sich nicht blind der Verfeindung überlassen.

 

In der Gedächtniskirche hängt auch die Madonna, die der Arzt Kurt Reuber zu Weihnachten 1942 im Kessel von Stalingrad gezeichnet hat. Ein ganz weiches Bild hat er der Todeskälte abgerungen, eine junge Maria, die ihr Neugeborenes in einem weiten Mantel birgt. Daneben stehen die Worte: Licht – Leben – Liebe. Reubers Botschaft aus dem Zentrum des Schreckens – jetzt ahne ich, was sie ihn gekostet haben mag. Und dass in allen Schrecknissen diese Worte unser Kompass bleiben müssen: Licht, Leben, Liebe.

19.12.2016
Pfarrerin Angelika Obert