Ein neuer Blick

Wort zum Tage
Ein neuer Blick
19.12.2016 - 06:23
19.12.2016
Pfarrerin Angelika Obert

Er ist tapfer, der blasse Junge mit dem großen Ranzen da hinten auf dem Bahnsteig. Der Weg zur Schule fällt ihm heute noch schwerer als sonst. Jetzt wird doch kurz vor Weihnachten noch eine Mathearbeit geschrieben und nein, er hat am Wochenende nicht geübt, wie er sollte. Hätte auch nichts genützt, er hat die Aufgaben sowieso nicht verstanden. Zwei Stunden hoffnungsloses Versagen liegen vor ihm. Es schnürt ihm die Kehle zu. Trotzdem wird er in den Zug steigen und sich dem drohenden Unheil aussetzen. Tapfer ist auch die unscheinbare Frau mit den beiden Einkaufsbeuteln auf dem Weg zur Arbeit. Jeden Morgen fährt ihr beim Weckerklingeln die Angst in die Glieder wegen der Raten, die sie nicht bezahlen kann. Und dann steht sie trotzdem auf. Genauso wie der zerknitterte, kleine Mann mit der Aktentasche – der Rücken tut ihm heute wieder furchtbar weh. Das wird den ganzen Tag so bleiben, aber fehlen will er nicht. Der Chef hat ihn sowieso schon auf dem Kieker. Sogar der junge Mann, der so übernächtigt aussieht, hat es pünktlich zum Zug geschafft. Dabei würde er sich am liebsten ans Ende der Welt verkriechen. Jetzt, wo seine Freundin Schluss gemacht hat, ausgerechnet vor Weihnachten. 

Wie viel Tapferkeit ist jeden Morgen versammelt auf den Bahnsteigen und an den Bushaltestellen? Wie viel Kummer, wie viel Sorge und Angst werden zwischen Aufstehen und Losgehen überwunden, auf dass jeder und jede pünktlich am Arbeitsplatz erscheint und den Tag über so gut funktioniert, wie es erwartet wird?

Man sieht es nicht. Man sieht bloß einen blassen Jungen, der nervös mit den Füßen scharrt. Man sieht, dass die Frau eine komische rosa Steppjacke trägt und dass der junge Mann irgendwie ungepflegt wirkt. Solche Sachen sieht man.

Aber wenn nun jemand käme, der das Andere auch sehen könnte – die Bangigkeit des blassen Jungen, den Abgrund im Leben der Frau, den Schmerz des alten und den Kummer des jungen Mannes? Einer, der fühlen könnte, was sie fühlen und wüsste, wie tapfer sie sind – unscheinbar, wie sie da alle stehen? Auf so Einen, der alles weiß, was Menschen leiden und voreinander verbergen, haben sie in biblischer Zeit sehnlichst gewartet. Und dass er dann kam, der Tröster, Jesus, der über niemanden hinwegsah und nichts von sich abwehrte – darum feiern wir Weihnachten. Mit ihm kam ein Blick in die Welt,  der eines jedes Menschen eigenen Schmerz und eines jedes Menschen eigene Tapferkeit achtet. Dieser liebevolle Blick. Den hat uns Gott zu Weihnachten geschenkt. Ein Päckchen, das wir aber heute schon aufmachen dürfen.

19.12.2016
Pfarrerin Angelika Obert