Lahme gehen, Blinde sehen

Wort zum Tage
Lahme gehen, Blinde sehen
14.02.2017 - 06:23
13.02.2017
Evamaria Bohle

Gesetzt den Fall, die Bibel hätte Recht. Auf ihre ganz eigene Art. Gesetzt den Fall, es wäre keine Zeitverschwendung, sich mit ihr zu beschäftigen. So wie ein Waldspaziergang keine Zeitverschwendung ist, oder ein Blick in die Weite. Ein Spaziergang auf der Schwäbischen Alb zum Beispiel. Vielleicht bei Kirchheim Teck. Da lockt das Felsplateau Breitenstein, direkt am Albtrauf. Von dort hat man einen herrlichen Blick. Wer im Stuttgarter Kessel das Meer vermisst, dort, am Breitenstein, kann man ein Gefühl von offenem Horizont erleben. Und so hat die Bibel Recht – wie ein Blick in die Weite. Sie öffnet den Horizont und neue Perspektiven.

 

Zum Beispiel der Satz: „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündigt.“ Steht im Lukasevangelium. Jesus soll das gesagt haben. Ein Satz wie eine spektakuläre Aussicht. Was normal ist, gilt nicht mehr – sogar das Grab verliert seine Macht. Unrealistisch? Kommt auf die Wirklichkeit an, die man gelten lassen will. Verunsichernd ist diese Sicht, wenn man es genau nimmt. Sie stellt Sicherheiten in Frage. Jedenfalls für uns Gesunde und Reiche und unsere Wirklichkeit. Jedenfalls, wenn man den Satz mal ganz ohne Heilungswunder einfach so stehen lässt: Denn wenn der Blinde doch sieht, ist dann der Sehende blind? Was bedeutet, zu hören, wenn man dazu keine gesunden Ohren mehr braucht? – Gesunde, intakte, reiche Menschen sind sich sicher. Sie sind gewohnt, dass ihre Normalität Maßstäbe setzt. Wir alle sind so daran gewöhnt, dass die Reichen und Intakten bestimmen, was in der Welt normal ist. Wer nicht sehen kann, ist blind, wer nicht hören kann, ist taub, wer nicht laufen kann ist lahm, wer tot ist, ist nicht mehr im Leben. Und wer arm ist – für den sind keine guten Botschaften zu erwarten. Das weiß doch jeder. Das sieht, wer aus dem Fenster schaut. Oder im Internet surft: Behinderte bleiben behindert und Hartz IV-Bezieher bleiben Leistungsempfänger. Das ist normal. – Sagt nochmal wer?

 

Mit seinen kurzen, starken Sätzen stellt Jesus in Frage, was als normal gilt. In Jesu Welt können Blinde sehen, Lahme gehen, hören die Tauben, für die Außenseiter und die Armen tun sich neue Türen auf. Und wer tot ist, über die ist das letzte Wort auch noch nicht gesprochen. Was für eine Aussicht. Was für eine Weite. So hat die Bibel Recht, glaube ich.

13.02.2017
Evamaria Bohle