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Auf einen Pflanzkübel vor einer Bäckerei hat jemand in neongelben Buchstaben das Wort "Tumor" aufgesprüht. Mitten im Alltag die Erinnerung an schwere Krankheit und Tod.
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"Tumor" hat jemand auf den unansehnlichen Pflanzkübel aus Waschbeton gesprüht. Er steht neben dem Bistrotisch, an dem ich diesen Sommertag beginne. Ungelenke Buchstaben und ein Wort wie ein Faustschlag. Ich nippe an meinem Milchkaffee, blinzle in die Sonne und denke: Krebs. Ich denke an den Bekannten, der weiß, dass er sterben wird und sich trotzig mit aller Kraft in seine Arbeit stürzt. An das Kind von Freunden, das die Leukämie besiegt hat. An die Nachbarin, die vor sechs Wochen ihren Mann beerdigt hat. Es ist Sommer, aber Tod und Trauer haben keine Sommerferien. Krankheit auch nicht.
Der unscheinbare Pflanzkübel steht vor der Bäckerei. Zu schwer, um weggeräumt zu werden. Das Neongelb der aufgesprühten Schrift ist verblichen, aber immer noch gut zu lesen: Tumor. Wer das wohl geschrieben hat und in welcher Verfassung? Dass direkt vor der Bäckerei Schutt verladen wird, passt irgendwie ins Bild. Heute ist kein Tag für heile Welt.
Zu heile Welten wecken mein Misstrauen. Bilder von scheinbar intakten Familien, schmucken Dörfern, Traumstränden, Urlaubsparadiesen und makellosen Körpern beunruhigen mich eher. Ich gehe innerlich auf Distanz und suche den Fehler, die Narben, den Tumor, die neongelbe Schrift hinterm Bistrotisch. "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden", betet einer in der Bibel. Solche Klugheit duldet keine heile Welt.
Im Gegenteil, sie stellt unbequeme Fragen über allzu schmucke Fassaden oder Makellosigkeit. "Wo ist der Tod in eurem Idyll?", will sie wissen. "Wer muss sein Leid verbergen, um dazu gehören zu können?" Die heile Welt ist kein guter Ort für beschädigtes Leben. Auch nicht für Zorn, Trauer, Angst, Unglück.
Die Sonne scheint, vor der Bäckerei wird Schutt gebaggert und Zimt im Gebäck tut der Seele gut. "Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen", heißt es in einem alten gregorianischen Choral.
Ein etwa fünfjähriger Baumaschinenexperte stoppt seine Mutter und weist begeistert auf den sich füllenden Lastwagen, den Greifarm des Baggers, den polternden Schutt. Der Krach ist seine Herrlichkeit.
Licht fällt grüngolden durch Platanen und Lindenlaub, flirrend malt es Schatten auf dem Gehweg, zwischen die Tische und Stühle, die zum Verweilen einladen. Krachend fällt wieder eine Ladung in den Lastwagen. Die neongelben Buchstaben auf dem Pflanzkübel leuchten still im Hintergrund. Es ist Sommer. Leben, vom Tod umfangen, von G’tt gehalten, in allen seinen Farben.
Es gilt das gesprochene Wort.